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1953: Der Zar, der den Titel Generalsekretär trug

  • Dienstag, 5. März 2013 @ 08:00
Geschichte Der Mann, der aus dem sonnigen Georgien kam: Anmerkungen zu Josef Stalin, dem bedeutendsten Generalsekretär aller Zeiten.

Als Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, der unter seinem revolutionären Decknamen Stalin Geschichte machte, am 5. März 1953 um 21.30 Uhr starb, war er einsam wie ein Tiger im Wald. Die Mitglieder des Politbüros fanden ihn in seiner Datscha auf dem Fußboden liegend.

In der Annahme, dass sich der „Genosse Stalin“ wohl ein Nickerchen genehmigt habe, wie Nikita Chruschtschow später erzählte, schlichen sie sich leise davon. Als wollten sie der Geschichte, bevor sie von ihr in die Pflicht genommen wurden, noch eine kleine Atempause abringen.

In ihrem Innersten hatten sie mit dem „Woschd“ (Führer), den sie zwar noch fürchteten, aber nicht mehr respektierten, bereits gebrochen. Der Alleinherrscher war zum Opfer seiner Alleinherrschaft geworden. Die Epigonen ahnten, dass der nächste Vernichtungsschlag ihnen gelten werde. Und Stalin ahnte, dass er sich der Seinen nicht mehr sicher sein konnte. Der blutige Machtkampf, den der Nachfolger Lenins jahrzehntelang der Partei aufgezwungen hatte, drängte zum Finale. Der natürliche Tod sorgte für ein versöhnliches Ende der Tragödie.

Als am Morgen des 6. März der Tod des Generalissimus bekanntgegeben wurde, durchlebte das Land einen gewaltigen Kulturschock, von dem es sich nie mehr richtig erholen sollte. Stalin, der große Baumeister der in der Oktoberrevolution wurzelnden sowjetischen Zivilisation, lebte nicht mehr. Der autoritäre Sozialismus war seiner Personifizierung verlustig gegangen. Die durch und durch, bis in die private Lebensweise stalinisierte Gesellschaft fühlte sich allein gelassen. Für einen Augenblick schien das Land in einen Zustand völliger Hilflosigkeit geraten zu sein. Wie an dem Tag, als Stalin den Einmarsch der Hitlertruppen „verschlafen“ hatte. Doch nun schlief er für immer.

Spontane Volkstrauer

Die spontane Volkstrauer warf die ganze Planung des staatlichen Trauerkomitees über den Haufen. Den Stalinschen Geist bedingungsloser Disziplin Hohn sprechend, zogen unorganisierte Menschenmassen zum Mausoleum, wo Stalin neben Lenin seine (vermeintlich) letzte Ruhestätte fand. Panik brach aus, und hunderte Menschen wurden zu Tode getrampelt. In der leidenschaftlichen Huldigung des verstorbenen Begründers der sozialistischen Despotie lag bereits ein Element von Rebellion. Vor allem aber wurde klar, dass die Gesellschaft nach Jahrzehnten äußerster Anspannungen und einer noch nie dagewesenen Massenleistung nicht zu ihrem Gleichgewicht gefunden hatte. Stalins Tod fiel in eine Zeit zunehmender sozialer Unzufriedenheit und einer sich ausbreitenden Skepsis hinsichtlich der Realisierbarkeit des kommunistischen Zukunftideals.

Der von Stalin in Gang gesetzte „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, dessen Triebfedern ebenso Massenheroismus wie Massenrepressionen waren, bildete stets auch eine Quelle sozialer Spannungen. Die Erbauer des Sozialismus fühlten sich in ihrem Engagement für die große Sache höchst unterschiedlich entlohnt. Die soziale Differenzierung als Motor einer effektiven Wirtschaft haben nicht erst die Gorbatschow-Leute entdeckt. Die Perestroika fand ihr Vorbild in Stalins unermüdlichen Kampagnen gegen die „kleinbürgerliche Gleichmacherei“. Obwohl keiner der bolschewistischen Revolutionäre je Positionen des von Marx denunzierten „rohen Kasernenhofsozialismus“ vertreten hat, dem in der Tat die gleichmacherischen Vorstellungen kleiner Warenproduzenten zugrunde liegen.

Latenter Bürgerkrieg

Wie Leo Trotzki seinem mörderischen Widersacher in der Schrift „Die verratene Revolution“ aber vorhielt, bildete die soziale Ungleichheit die Voraussetzung des vom Generalsekretär verkörperten bürokratischen Herrschaftssystems und deren Aufrechterhaltung die Voraussetzung zur ständigen Reproduktion dieses Systems. In den sozialen Gegensätzen sah Trotzki die Ursache und in deren Verschärfung das Ergebnis der bürokratischen Machtübernahme: „Grundlage des bürokratischen Kommandos ist die Armut der Gesellschaft an Konsumgütern mit dem daraus entstehenden Kampf aller gegen alle“, schreibt er.

Doch das Erreichen einer höheren Stufe der materiellen Produktion hob das bürokratische Regime und die soziale Ungleichheit nicht auf. Nun ging es darum, so Trotzki, „einer Minderheit erhebliche Privilegien zu gewähren und die Ungleichheit in eine Knute zur Anpeitschung der Mehrheit zu verwandeln. Das ist der erste Grund, warum das Wachsen der Produktion bisher nicht die sozialistischen, sondern die bürgerlichen Züge des Staates verstärkte“.

Anpeitschen, Zuspitzen, Durchrütteln. Das waren Konstanten der Stalin-Politik. Um die Gesellschaft auf Stalinschen Kurs zu bringen und zu halten, musste ihr permanent Gewalt angetan werden. Doch auch die Ergebnisse waren gewaltig. Aus einem rückständigen Agrarland, das Jahrhunderte verschlafen hatte, war ein moderner Industriestaat geworden. Aus den Tiefen eines analphabetischen, unkultivierten und apathischen Volkes war eine in ihrer Breite beispiellose neue Intelligenz hervorgegangen.

Stalins aus den Fingern gesogene These, dass sich im Sozialismus die Klassenwidersprüche zwangsläufig verschärfen, wurde zur „selffilling prophecy“. Die Rolle des Klassenfeindes wurde in dieser subjektivistischen Klassenkampftheorie jeglicher - oft auch nur behaupteter - oppositioneller Strömung zur Stalinschen Generallinie zugeschrieben. Die Oppositionellen kamen und gingen - das Reservoir an Klassenfeinden erwies sich als unerschöpflich. Wer heute noch den Stalinschen Geist verkörperte, konnte morgen schon zu einem erbärmlichen Speichellecker der Bourgeoisie herabgesunken sein. Je fließender der Unterschied zwischen Freund und Feind wurde, desto unverrückbarer stand das Dogma vom nie schlafenden Klassenfeind, das die Ermächtigung zum permanenten Terror abgab.

Es war nicht Josef Stalin, der über die UdSSR einen jahrzehntelangen Ausnahmezustand verhängte. Denn dieser Zustand war objektiv gegeben. Doch hat die stalinistische Führung die Ausnahmesituation, in der sich das vom Weltkapitalismus umzingelte Land befand, zum latenten Bürgerkrieg weitergetrieben. Das betrifft die Liquidierung der Kulaken als Klasse, den Einsatz von Millionen Zwangsarbeitern an den Großbaustellen des Sozialismus und die Eskalierung des innerparteilichen Konfliktes zu einem Kampf auf Leben und Tod. Das lässt Stalin als linksradikalen Übertreiber der russischen Revolution erscheinen, der die Verhältnisse stets aufs Neue aufmischte und die Gesellschaft permanent radikalisierte.

Doch nichts lag dem Generalsekretär ferner, als Trotzkis Theorie der „permanenten Revolution“ zu adaptieren. Stalin war im Gegenteil der Prototyp des Zentrismus. Seine Macht ergab sich aus der Paralysierung des linken und des rechten Flügels im Bolschewismus, aus der administrativen Gleichschaltung des revolutionären Diskurses. Er liquidierte mit Hilfe der Rechten die Linke und mit Hilfe der Linken die Rechte.

Frage an den Genossen Stalin: Welche ist die gefährlichere Abweichung, die linke oder die rechte? Antwort des Genossen Stalin: Beide sind „gefährlicher“. Doch auf der ständigen Suche nach der Mitte, in seinem Bestreben, das Stalinsche Zentrum dauerhaft zu festigen, verfiel der Mann, der aus dem sonnigen Georgien kam, immer wieder in einen irrationalen Radikalismus. Die Industrialisierung war eine - in ihrem Wesen - voluntaristische Großtat historischer Dimension. Es schien, als könnte bolschewistischer Willen tatsächlich Berge versetzen. Doch hatte diese „Widerlegung“ der Naturgesetze auch ungeheure soziale und ökonomische Verwerfungen zum Preis. Im bürokratischen Subjektivismus dieser Jahre waren die späteren Fehlentwicklungen bereits angelegt.

Die zwangskollektivierte Landwirtschaft, aus der die Mittel für die „sozialistische Akkukumulation“ herausgepresst wurden, ist in all den Jahren der Sowjetmacht nie richtig auf die Beine gekommen. Die Konsumgüterindustrie blieb bis zuletzt ein Stiefkind der Sowjetökonomie, die Tonnenideologie bewies ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Der Übergang vom extensiven zum intensiven Wirtschaften ließ sich, obwohl längst als vordringlich erkannt, nicht vollziehen. Das administrative Kommandosystem, das die industrielle Revolution zum Sieg führte , erwies sich als Anachronismus, als die technologische Revolution an die Tür klopfte.

Der Generalissimus

Bleibt noch, auf die Rolle Stalins als Generalissimus zu verweisen. Am Vorabend des Krieges gegen Hitlerdeutschland köpfte er die Führungsschicht der Roten Armee. Im Kreml wusste man zwar, dass der Krieg unausweichlich war, bei der Einschätzung der Aktualität der Kriegsgefahr aber irrte der Genialissimus, wie es genialer nicht hätte sein können. Ihm, der ständig inneren Verschwörungen auf der Spur war, der die Trotzkisten als „hitlerfaschistische Agenten“ enttarnt hatte, war die „revolutionäre Wachsamkeit“ abhanden gekommen, als die hitlerfaschistische Verschwörung an den Grenzen zur Sowjetunion Stellung bezog und zum Vernichtungsschlag ausholte. Hier zeigte sich ein seltsam zögerlicher, ängstlicher Wesenszug in Stalins Charakter. Der „Pädagoge“ der einfachen Antworten, war ein Politiker des ständigen Zick-Zacks.

Dem Krieg, der Anfangs verloren schien, eine Wende gegeben und die Nazi-Wehrmacht in Berlin zur Kapitulation gezwungen zu haben, bleibt die größte Ruhmestat der von Stalin geführten UdSSR. Es war ein Sieg der sowjetischen Zivilisation über die Barbarei, ein Sieg des sowjetischen Kollektivismus über das Herrenmenschentum und auch ein Sieg Stalins über sich selbst. Es war eine Art spontaner Entstalinisierung, die nach dem Krieg allerdings wieder zurückgedreht wurde, was zu einer neuen Repressionswelle führte.

Damals aber war es eine Voraussetzung für den Sieg, die über die Gesellschaft verhängte innere Blockade aufzuheben. Das hatte allerdings auch eine für die Weiterentwicklung sozialistischen Bewusstseins verhängnisvolle Kehrseite. Im „Großen Vaterländischen Krieg“ vollzog sich endgültig die Wende von der - zumeist ohnedies nur mehr deklamatorischen - proletarisch-internationalistischen zur großrussischen Staatsidee. Das machte sich auch in den innersowjetischen Beziehungen bemerkbar.

Die Huldigung des „ewigen Russlands“, von Stalins Agitabteilung als Hegemon der Weltzivilisation gepriesen, überformte den Sowjetpatriotismus. Doch es war keine nationale Idee, von der sich der „Vater aller Völker“ bewegen ließ, sondern eine imperiale. In ihr fand die sowjetische Großmachtpolitik ihren ideologischen Ausdruck. Die besondere Rolle des russischen Volkes gegenüber den anderen Sowjetvölkern, die Stalin in seiner Rede zum Kriegsende ausdrücklich hervorhob, ergab sich aus dem Bedürfnis des bürokratischen Zentralismus nach einer herrschenden Nation.

Vollendung und Ende des Stalinismus

Das bürokratische Sozialismusmodell hat seinen Begründer 37 Jahre überlebt. Stalins Nachfolger haben das System zwar liberalisiert, aber nicht demokratisiert. Das von Lenin beschworene „lebendige Schöpfertum der Massen“ lag weiterhin fast völlig brach. Das sozialpaternalistische System wurde zunehmend zum Hemmschuh seiner eigenen Entwicklung. Aus sich heraus konnte es, auch wenn das subjektiv durchaus gewünscht gewesen sein mochte, keine positive Aufhebung der Verhältnisse bewirken. Zu schwer wog das bürokratische Eigeninteresse. Was aber noch schwerer wog: Die Gesellschaft vermochte es nicht, aus sich selbst heraus ein zu den bürokratischen Interessen antagonistisches Subjekt herauszubilden, das imstande gewesen wäre, das Nomenklatura-Regime und die ihm innewohnenden Tendenz zur kapitalistischen Restauration zu überwinden.

Es geschah genau umgekehrt: Die Nomenklatura und die in ihrem Schatten gediehene Wirtschaftskriminalität wuchsen zum - gegen die staatssozialistischen Eigentumsverhältnisse gerichteten - antagonistischen Subjekt. Dieses fand in der werktätigen Bevölkerung keine Gegenkraft. Die bürgerliche Partei, die sich im Sumpf staatssozialistischer Korruption bildete, verstand es vielmehr, die soziale Frustration der Massen auf ihre Mühlen umzuleiten.

Leo Trotzki hatte es in der „Verratenen Revolution“ kommen sehen: Für den Fall, dass die Bürokratie an der Spitze des Staates bleibe, sagte er voraus, würden „die sozialen Beziehungen nicht starr festgeschrieben bleiben. Keinesfalls kann man damit rechnen, dass die Bürokratie friedlich und freiwillig zum Besten der sozialistischen Gleichheit sich selbst verleugnet, sie wird sich unvermeidlich nach Stützen in den Besitzverhältnissen umsehen müssen“. Trotzki hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sich dieser Prozess noch 50 Jahre hinziehen werde.

Mit dem 1986 verabschiedeten Gesetz über die Genossenschaften, das ein genossenschaftlich etikettiertes privates Unternehmertum zuließ und das Schöpfertum der Massen stimulieren sollte, hatten Bürokratie und Schattenwirtschaft eine Eigentumsbasis gefunden. Statt der von Lenin entworfenen Gesellschaft zivilisierter Genossenschafter entstanden ehrenwerte Gesellschaften zur Reinwaschung von massenhaft akkumuliertem Schwarzgeld. Während die „demokratischen“ MeinungsführerInnen Bürokratismus und Sozialismus als Synonyme darstellten, ging von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt der kapitalistische Eigentumsputsch der Bürokratie über die Bühne. Zu schlechter letzt waren auch noch die von der Perestroika wachgerufenen antibürokratischen Bestrebungen der Volksmassen von der Bürokratie korrumpiert worden. Die bürgerliche Partei hatte die Interpretationshoheit über die Ereignisse erlangt.

So fand der Stalinismus, der in seinen wesentlichen Strukturelementen, wenn auch nicht in seiner terroristischen Form, nach Stalin fortbestanden war, im Gorbatschowismus seine Vollendung. Und sein Ende. Der Sowjet-gesellschaft war das Bewusstsein ihrer selbst und jegliche „revolutionäre Wachsamkeit“ abhanden gekommen. Stalin dürfte das wohl geahnt haben, als er sich vor seinem Tod gegenüber den Epigonen beklagte: „Ihr seid blind wie junge Katzen, was werdet ihr ohne mich machen? Unser Land wird zugrunde gehen, weil ihr es nicht versteht, Feinde zu erkennen.“

Der Feind, an dem die Sowjetunion zerbrach, hatte seine Genesis in dem vom Stalin geschaffenen bürokratischen Herrschaftssystem. Vor lauter Klassenfeinden konnten oder wollten die Stalinisten die reale Konterrevolution nicht sehen. „Die Kader entscheiden alles“, lehrte uns der weise Stalin. Boris Nikolajewitsch Jelzin, ein im Ural gestählter Kader, lieferte im August 1991 die Bestätigung für diese These. Im Jelzinismus fand der Stalinismus seine genetische Fortsetzung unter Bedingungen der terroristischen Enteignung der Volksmassen.

50 Jahre nach Stalins Tod wird sein Wirken von einem Drittel der RussInnen positiv eingeschätzt. Das hat nur sehr bedingt etwas mit dem Überleben sozialistischer Wertvorstellungen zu tun. Es ist nicht so sehr der „Schüler Lenins“ und der Herrscher über die kommunistische Weltbewegung, der sich in der kollektiven Erinnerung eingeprägt hat, sondern ein ideologisch neutraler Stalin. Der weise Staatsmann, der Bewahrer der russischen Reichsidee, der Begründer der russischen Supermacht und Bannerträger der östlichen Zivilisation.

Der Zar, der den Titel Generalsekretär trug

Präsent blieb der im 2. Weltkrieg geläuterte Generalissimus, der die innere Einheit der Großen Rus wiederhergestellt und die zwei Seelen in Russlands Brust, die rote und die weiße versöhnt habe. Gemäß dieser nationalpatriotischen Deutung würdigt auch der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, Gennadi Sjuganow, den bedeutendsten Generalsekretär aller Zeiten: als Vertreter der russophilen Strömung im Bolschewismus, der Russland vor dem Revolutionarismus der russophoben Bolschewiki gerettet habe. Einen solchen Stalin-Kult braucht Wladimir Putin nicht zu fürchten.

Werner Pirker, Volksstimme 12/2003, 30.3.2003

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