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Reisen wir mit, bleiben wir da

  • Samstag, 16. Januar 2010 @ 08:00
Kultur Von Erich Hackl

Zeigen, was reaktionäre Politik und ungehemmtes Profitstreben anrichten. – Gedenkblatt für Eugenie Kain.

Gläubige hätten es leichter. Alles sei geregelt. Die Verstorbenen kämen in den Himmel. Das gehe in der Regel schnell, deshalb auch die Eile, mit der sie den Zurückgebliebenen entrissen würden. Wenige Sätze nur, die bei einem christlichen Begräbnis über sie gesprochen würden. Dann müsse losgelassen werden. Die Toten würden übergeben und auf den Weg geschickt, und die Angehörigen blieben zurück mit den dürren Worten eines Geistlichen und sollten Zuversicht im Gebet finden.

„Am Urnenfriedhof“, hast du geschrieben, „bei den Begräbnissen ohne christlichen Ritus, war es umgekehrt. Es war wichtig, möglichst viel von den Verstorbenen zu behalten. Es gab kein Jenseits. Es gab nur die Erinnerung an die Verstorbenen. Und die Energie, die aus der Erinnerung an sie und an gemeinsam Erlebtes entstand. Diese Energie blieb.“

Diese Energie bleibt, Eugenie. Trotzdem ist es nicht einfach, sich ihrer zu vergewissern, so wie es der namenlosen Heldin deiner „Flüsterlieder“ gelungen ist. Noch sind wir stumpf vom Wissen, dass du gestorben bist. Auch diesen Moment hast du in der Erzählung festgehalten. „So wie immer war es nicht mehr. Für alles andere war es noch zu früh.“ Dabei hatten wir, leider und zum Glück, dreieinhalb Jahre Zeit, auf diese Energie umzustellen, um ab jetzt über sie zu verfügen, als wärst du noch da, als könnte man sich mit dir, der bedächtigen, uneitlen, unaufgeregten Freundin, auf eine Weile zusammensetzen in der Gewissheit, sogar noch aus der Einsicht, politisch und beruflich auf verlorenem Posten zu stehen, Mut zu schöpfen: erstens, weil man sich in deiner Gesellschaft, bei geteilter Meinung, gleich mehr zugetraut hat; zweitens wegen deines festen Wesens, ungezierten Auftretens und mundartlichen Sprechens (mit gelegentlichem Umschlag ins sogenannte Schriftdeutsch, dem jeweils akustische Gänsefüßchen wuchsen); drittens durch den Anblick deines gütigen Gesichts, das mit seinen Wölbungen und Furchen ausdrucksstark wie eine südliche Landschaft gewesen ist; viertens aufgrund deines Widerwillens, in das Geschwätz der „selbstentzündlichen Künstlerinnen und Therapeuten“ einzustimmen; fünftens wegen deines gemütvollen Lachens, das sich manchmal ungläubig angehört hat, wie ein akustisches Kopfschütteln über die Gemeinheiten derer, die sich besonders klug wähnen, dann wieder breit und vergnügt, wenn verzwickte Situationen zur Sprache kamen, die auch dir vertraut waren.

Der herbe Ton, Geduld, das Wilde

Wir haben es gut: Wir haben ja, was Eugenie geschrieben hat. Ihre Erzählungen gehen einem ebenso nahe wie das Erinnern an eine Begegnung und sind zudem verlässlicher als das eigene Gedächtnis. Sie bestechen durch die Genauigkeit in der Darstellung von Empfindungen, Sinneseindrücken, Handlungen und in der Kenntnis von Fertigkeiten, Gerätschaften, Naturerscheinungen, durch den herben Ton, den die Autorin anschlägt, die kühnen Bilder, die sie für alltägliche Verrichtungen findet, die Behutsamkeit, mit der sie ihre Protagonistinnen behandelt, die Geduld, die sie ihnen angedeihen lässt, die Zwischenräume, die sie den Leserinnen, Lesern öffnet, die Gefasstheit ihrer Sätze, in denen gleichwohl das Wilde Platz hat, das sie nicht bändigen, sondern bewahren, als eine Art Erinnerung an die Zukunft, wenn die Verhältnisse sich endlich umkehren.

Denn auch darin war Eugenie einzigartig. Weil sie von Frauen, Kindern, Jugendlichen, manchmal auch Männern geschrieben hat, die in den herrschenden Medien und in der hegemonialen Literatur nicht oder falsch vorkommen, über die sonstwo verkannte, verkitschte Zielgruppe der Sozialämter, der Ausbildungsprogramme für Langzeitarbeitslose, der Beratungsstellen für Kreditschuldner. Weil sie gezeigt hat, was reaktionäre Politik, ungehemmtes Profitstreben anrichten und welche Folgen es hat, wenn Aufruhr und Empörung ausbleiben oder sich, in Form von Gewalt, Angst, Anpassung, gegen die Langmütigen kehren. Vor allem stellte sie den inneren Reichtum armer Menschen dar, deren Gabe, sorgsam miteinander umzugehen, sich im Gegenüber zu erkennen, die eigene Sehnsucht zu hüten oder überhaupt erst zu wecken, sie sich nicht abjagen zu lassen, abkaufen, schlechtmachen.

Eugenie war, einfach, eine revolutionäre Schriftstellerin in unserer restaurativen, sogar zur Konterrevolution drängenden Zeit. Sie hatte es deshalb schwerer als alle, die sich eine herrschaftsarme Gesellschaft bloß wünschen. Leichter, weil sie in einer Familie aufgewachsen ist, die ihr eine andere Perspektive als die des real existierenden Kapitalismus eröffnet hat. Sie hat sich das Wissen über Widerstand und Verfolgung nicht erst aneignen müssen; Verfolgte, Widerständige gab es in ihrem Umfeld zuhauf, den Vater, die Tanten und Onkeln der Mutter, die alten Genossinnen, Genossen in der Partei. Der Kernsatz aus dem Erfahrungsschatz der überlebenden Angehörigen lautete: „Gib immer nur zu, was sie schon wissen.“ Gestehen, was eh schon amtsbekannt ist. Mit dem Rücken zur Wand stehen, für den Fall, dass plötzlich wer zuschlägt. Kleine Gebrauchsanweisung, um über die Runden zu kommen, ohne Gewähr. Sonst hilft allenfalls noch das Untertauchen und Atmen durch ein Schilfrohr, wie in der gleichnamigen Erzählung von Anna Seghers. Mit der älteren Kollegin hatte sie einiges gemeinsam, mehr als mit ihren schreibenden Altersgenossinnen hierzulande, die flirrende Sprache, die Ahnung von Glück, den Glauben an Irdisches und an die Kraft der Schwachen. Und den zaghaften bis unbändigen Willen der weiblichen Gestalten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Ich bin keine Frau, die sich gerne füttern lässt“, sagt eine von ihnen, „und ich bin keine Frau, die füttert.“

Vieles von dem, was ich als Eugenies Kunst ausgewiesen habe, trifft auch das Vermögen ihres Vaters. Franz und Eugenie Kain teilten das soziale Gespür, die politische Einstellung, die anschauliche, aus dem Handwerk übernommene Begrifflichkeit, mit der sie Auskunft gaben über ihr Schreiben. Der ehemalige Holzknecht hatte ihr beigebracht, Bäumen Geschichte und Eigenart anzusehen. Nicht zufällig hat sie seinen Tagebuchaufzeichnungen aus den letzten Lebensjahren dieses Zitat als Titel vorangestellt: „Man müsste sich die Zeit nehmen, genauer hinzuschauen.“ Der Komparativ, ihre gemeinsame Poetik. Als Korrektiv und Ergänzung der letzte Absatz aus einem Aufsatz, den Eugenie vor mehr als 15 Jahren über sich und ihn geschrieben hat: „Die Tochter ist – auch – vom Vater geprägt. Sprache und Lebensweise werden halt nicht mit der Post ins Haus geschickt, sondern haben Wurzeln. In diesem Zusammenhang übersehen Besserwisser und Gschaftlhuberinnen meist die Mutter und ihren Beitrag zum vermittelnden Blick auf die Welt und alles, was in 34 Jahren sonst noch gelebt wird. Die Tochter für ihren Teil geht gern in städtische Bäder, sofern dort zwischen ,Erlebnisbereichen‘ und Wasserrutschen noch Platz zum Schwimmen ist, und sie lässt sich gern in der Donau treiben. Den schreibenden Vater nimmt sie als Ansporn. Nicht um besser zu schreiben, nicht um anders zu schreiben, sondern um weiterzuschreiben.“ Kein Zufall, dass sie hier die Donau erwähnt hat; in jedem dritten Aufsatz, in jeder zweiten Erzählung kommt der Strom vor, beileibe nicht als Hommage an Vater oder Kindheit, sondern aus eigenem und aus dem existenziellen Bedürfnis ihrer Heldinnen: „Der Donau möchte ich nahe bleiben. Sie gibt mir die Sicherheit, dass es weitergeht“, heißt es in „Chill out“. Und ein paar Seiten weiter: „Aber sie haben die Donau nicht ganz im Griff. Das beruhigt mich.“

Der Wasserlauf ist nirgends daheim, überall zugehörig, er weitet die Enge der Provinz, die durch seine Schlepper und Lastkähne und Matrosen mehr an Welt gewinnt als, beispielsweise, durch ein Kulturhauptstadtspektakel. Eine periphere Welt, müsste man hinzufügen, die Eugenie generell den Zentren vorgezogen hat, auf Reisen ebenso wie beim Zuhausebleiben. In ihren Erzählungen sind jene Stätten aufgehoben, an denen Arbeit, Geschichte und Natur zueinander fanden, nebeneinander bestehen konnten, ehe die Fabriken gesprengt, die Häuser abgerissen, die Gärten betoniert, alle zusammen durch Einrichtungen zur synthetischen Freizeitverbringung ersetzt wurden. Wer wird sich nun, da Eugenie tot ist und mit ihr die vernichtete wie die weiterhin resistente Stadt ihrer großen Chronistin entbehrt, um Hafengelände und Industriezeile kümmern, um Dampf und Nebel, um Drosseln, Hoffnungsträger, Ausreißerinnen, Schneckenkönige, all die Menschen, die sich ihre ungeordneten Träume nicht haben austreiben lassen.

Es gab, neben der Schriftstellerin, auch die Vermittlerin Eugenie Kain, die das kulturpolitische und literarische Leben ihrer Stadt befruchtet, gefördert und kommentiert hat. Operatives Schreiben war ihr ebenso wichtig wie gemeinschaftliches Arbeiten in unterschiedlichen Disziplinen, das ohne die Bereitschaft, aufeinander einzugehen, nicht denkbar ist. Sie leitete Schreibwerkstätten für Obdachlose und Hochwassergeschädigte, machte beim Zeitungsprojekt Hillinger mit, schrieb regelmäßig für die KUPF, die Zeitung der Kulturplattform Oberösterreich, gestaltete Sendungen für das kommerzfreie Radio Fro – einen Sender, den sie noch auf der Palliativstation gehört hat. Selbst auf diese für den Tag bestimmten, aber die Schreibanlässe überdauernden Beiträge trifft zu, was die Ich-Erzählerin ihres Prosastücks „Unterwegs“ behauptet: „Ich sammle Geschichten, bevor sie verblassen, verstummen, sich auflösen im offenen Raum des Vergessens.“

Wissen um die „gestundete Zeit“

In manchen Erzählungen, die sie schon im Wissen um ihre unheilbare Krankheit geschrieben hat, tritt Eugenie fast unverstellt hervor, als eine Frau namens Rosa, die ihre Angst, ausgelöst durch das Wissen um die „gestundete Zeit“, am besten im Freien zu beherrschen vermag, und ihre Wut an den Zuständen am wenigsten gut bei der Lektüre einer Zeitung. „Denn beim Lesen hatte sie das Gefühl, es werde von einer anderen Welt berichtet. Von einer Welt, in der es sie nicht mehr gab. Sie war vorzeitig pensioniert worden. Aus gesundheitlichen Gründen. Das hatte sie aus dem Wahrnehmungsbereich geschoben. Von ihr war kein Geld zu erwarten und keine Sensation. Rosa kämpfte ums Überleben, ganz normal, ohne Scheinwerfer und Mikrofon. Es gab keine Nachfrage nach solchen Leben. Das Angebot war zu groß.“

Diese bitterwahre Bilanz ist nicht das Ende. Lieber begleiten wir Eugenie durch die Erzählung „Sonnenstadt“, zwängen wir uns alle – ihre Tochter Katharina, ihre Mutter Margit, ihr Bruder Franz, dahinter die restlichen Verwandten und Freundinnen und Genossen – in den ohnehin schon überfüllten Triebwagen der Straßenbahnlinie 41, der plötzlich, mit einem Ruck, einem Rumpeln, vom Boden abhebt. Dem ebenso unerwartet vier Schimmel vorgespannt sind, die der Fahrer, nackt unter der Uniformjacke, nein: unter dem Kittel Apollons, mit Zügel und Peitsche in steilem Winkel dem Himmel, der Sonne, dem Kommunismus zuführt. „Tief unter ihnen lag die Stadt. Wattewölkchen über Chemiepark und Stahlwerk. Die Donau eine Riesenschlange. Das Netz der Straßen ein Gespinst, dicht gewebt in den Zentren, mit langen Fäden in Ebenen und Hügelland verankert.“ Reisen wir mit, bleiben wir da, surrt die Energie, die uns mit Eugenie Kain verbindet. „Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln.“

Quelle: Die Presse, Print-Ausgabe, 16.01.2010

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