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Zum Umgang mit der Komintern-Geschichte

  • Freitag, 6. März 2009 @ 08:00
Geschichte Bemerkungen zur Geschichte der Komintern von ihrer Gründung bis zum Ende der 20er Jahre. Auszug aus einem Referat von Wladislaw Hedeler auf einem KPÖ-Seminar, November 2001. Der vollständige Reader ist über die KPÖ beziehbar.

1. Sichtweisen auf die Komintern-Geschichte

Aus heutiger Sicht lassen sich in der neueren Fachliteratur und Publizistik drei Zugänge zur Geschichte der Kommunistischen Internationale ausmachen: Erstens: die Komintern als „verbrecherische Organisation in Aktion“. Diese Sicht findet sich v.a. in den Beiträgen von Stéphane Courtois und Jean-Louis Panné im „Schwarzbuch des Kommunismus“. Zweitens: Versuche, die Komintern-Geschichte aus sowjetischer Zeit bruchlos fortzuschreiben. Drittens: Ereignis- oder regionalfixierte Studien als Vorarbeiten für eine noch ausstehende Gesamtdarstellung der Kommunistischen Internationale.

1.1. Die Komintern als „verbrecherische Organisation“

Von den Autoren des „Schwarzbuches“ werden die Aktionen der Komintern generalisierend als terroristisch und antisemitisch ausgerichtet beschrieben. Ihr vernichtendes Resümee lautet: Die Komintern war von Beginn an von Lenin als eines von mehreren Instrumenten der internationalen Unterwanderung konzipiert worden. Ihre politische Doktrin war eng an die bolschewistische angelehnt. Sie musste zwangsläufig scheitern.1

Das in diesem Kontext relevante und interessante Problem, das von den genannten Autoren übergangen wird, bringt Wolfgang Fritz Haug auf den Punkt: „Der Kriegskommunismus mit seinem Primat der Gewalt und der Orientierung auf den Frontalangriff wurde hinterrücks von einer Dialektik eingefangen, grausames Schulbeispiel des Grundsatzes von Kampf und Einheit der Gegensätze. […] Der Satz des Gefangenen Jesus gegen den Befreiungsversuch des Petrus: ‚Wer zum Schwert greift, wird durchs Schwert umkommen‚, weiß um diese Dialektik. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hält für uns das Medusengesicht bereit, dessen frontaler Anblick uns erstarren macht: Die direkte Konfrontation, scheinbar Klasse gegen Klasse, führt in einen Gegensatz hinein, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Demokratieverachtung, Führerkult, Terror, Verstaatlichung der Zivilgesellschaft, das staatsästhetisch eingesetzte Ornament der Masse, die Jagd auf Volksfeinde. Totalitarismustheorien und die griffige Formel der bürgerlichen Demokraten ‚rot — braun‚ hatten ihre Evidenz.“2

Doch zurück zum „Schwarzbuch“. Auffällig ist, dass sowohl die Anhänger der für das „Schwarzbuch“ verbindlichen Lesart als auch die Autoren, die mit Fortschreibungsversuchen sowjetischer Legenden der Kominterngeschichte hervortreten, den Gründungskongress im März 1919 — den dort artikulierten anfänglichen Widerspruch der deutschen Delegierten — aussparen und ihre Darstellung mit dem II. Kongress der Komintern (Juli/August 1920) beginnen, d.h. von einer monolithen Organisation ausgehen, wobei sie die 21 Aufnahmebedingungen

konträr auslegen. Die von Hugo Eberlein, dem deutschen Delegierten, auf dem I. Kongress vorgetragenen Bedenken [die Proletarier Westeuropas misstrauen dieser Organisationsform] spielten nach Ankunft des österreichischen Delegierten (Gruber) Karl Steinhardt keine Rolle mehr. Am 4. März 1919 tagte der Kongress als Gründungskongress der neuen, III. Kommunistischen Internationale. Sein erklärtes Ziel: eine Kommunistische Föderative Weltrepublik.

Was auf den ersten Blick als marginale Episode der Komintern-Gründung erscheint, ist in der Geschichte der kommunistischen Bewegung als prinzipielle und durchgehende Diskussion seit der Gründung der neuen Weltorganisation präsent. Der aus der Kommunistischen Partei Deutschlands als „Rechtsabweichler“ und Kritiker des Putschismus ausgeschlossene Vorsitzende Paul Levi und die die Parteidisziplin über die theoretische Klärung stellende Clara Zetkin sind nur zwei Beispiele für alternative Sichtweisen, die sich weder in der Kommunistischen Partei Deutschlands noch in der Komintern durchsetzen konnten.

Walter Jens hat in seiner Rede auf dem Neujahrsempfang der PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag am 14. Januar 2002 an Paul Levi, den Mann zwischen den Fronten erinnert: „… aus Rosa Luxemburgs Schule. Verstoßen von der KPD, ein outlaw unter den Sozialdemokraten; einer, der die Reichstags-Tribüne in die Rosta der Französischen Revolution verwandelte. Kein Abtrünniger, kein Bekehrter, sondern ein homo pro se: kein Wunder, dass bei der Trauerfeier im Wilmersdorfer Krematorium Albert Einstein inmitten junger Sozialisten saß, deren rote Fahnen Spalier bildeten. Einstein wußte, wohin er gehörte; die Reichstagsabgeordneten der Kommunisten hingegen — auch dies will nie vergessen sein! — wußten es nicht: ‚Als Präsident Loebe Gedenkworte für Paul Levi sprach‘, so Carl von Ossietzky … ‚erhoben sich zwei Reichstagsparteien und gingen geschlossen hinaus. Die eine hat Paul Levi mit begründet und später geführt, die andere rechnete ihn seit je zum Kreis der Novemberverbrecher und ließ ihn 1923 als proskribiert erklären. Wenn noch an einer Totenbahre der Hass nicht schweigen will, wenn an die Stelle des ‚requiescat in pace‚ der Fluch tritt, ‚Deine Asche möge im Wind verwehen!‘, dann weiß man, dass hier kein Durchschnittsmensch gestorben, sondern ein außergewöhnliches Leben zu Ende gegangen ist‚ — ein Mann wurde zugrunde gerichtet, füge ich hinzu, für den, in entschiedenem pro et contra, aber auch voll Demut, die beiden Parteien der Linken, die ihm so viel verdanken und so verächtlich oder zumindest gleichgültig über ihn hinweggegangen sind, der unter Ossietzkys Satz stehen möge: ‚Er war dem Sozialismus verschworen wie kaum ein anderer, aber nicht der Partei, nicht ihren Buchstaben, nicht ihren Opportunitäten und Rücksichten. Er war eine eigene Macht, mit seinen Widersprüchen und Irrtümern, seine eigene Fahne, und diese Fahne ist gesunken.‘ Die PDS, die mich eingeladen hat — auch um ihr unbequeme Wahrheiten zu sagen“, schloß Walter Jens, „- sollte Paul Levis Fahne aufs Neue emporsteigen lassen.“

Paul Levis Option war die konsequente Fortsetzung des Kurses des „Offenen Briefes“ vom 8. Januar 1921 mit dem Ziel, eine möglichst breite linkssozialistische Strömung in der deutschen wie internationalen Arbeiterbewegung unter dem Dach der Komintern zusammenzuführen. Das stand in der Tat der Politik, wie sie in den 21 Aufnahmebedingungen des II. Weltkongresses Niederschlag gefunden hatte, diametral entgegen. Im letzten Wort der DDR-Geschichtsschreibung, dem nicht mehr erschienenen Band 2 der „Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“, hieß es denn auch folgerichtig: Paul Levi „polemisierte gegen die Aufnahmebedingungen und warf der Komintern Unverständnis für westeuropäische Fragen vor. Seine Polemik gegen die Kommunistische Internationale und gegen Grunderkenntnisse des Leninismus lief darauf hinaus, die im Kampf gegen den Opportunismus errungenen Fortschritte der Partei, ja ihre politische und ideologische Selbständigkeit in Frage zu stellen.“

Tatsächlich stand der Versuch einer linkssozialistisch intendierten Realpolitik im Kapitalismus, mit dem Ziel diesen zu überwinden, einer Politik gegenüber, die fundamentalistisch am Konzept der Weltrevolution und dem Glauben von der Machbarkeit dieser Revolution festhielt. Dieser Widerspruch reproduzierte sich in der Geschichte des Parteikommunismus des Komintern-Typs bis zu seinem Ende immer wieder. Die Niederlage Paul Levis und seiner Parteigänger in der Zentralausschusstagung, die mit 28 gegen 23 Stimmen die Haltung der Komintern billigte, war folgenschwer. Sie führte zum Rücktritt von Levi und Clara Zetkin sowie vielen anderen.

Der im weiteren Verlauf dieser Auseinandersetzung erfolgende Ausschluss Paul Levis und das Ausscheiden führender ehemaliger Funktionäre der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) reduzierte die geringe Chance, die Komintern offen zu halten für eine breitere Sammlung der Kräfte der Arbeiterbewegung links von der reformistischen Sozialdemokratie vom Typ der Mehrheits-Sozialdemokratie (MSPD). Das vertiefte die Spaltung der Arbeiterbewegung und führte zu einer Polarisierung, die linkssozialdemokratische Kräfte von der kommunistischen Bewegung abstieß. Die Option für eine einheitliche, demokratische, linkssozialistisch-kommunistische Organisation im nationalen wie im internationalen Maßstab verlor ihre wichtigsten Protagonisten.

Dittmann und Crispien von der USPD hatten am Komintern-Kongress, auf dem über die Aufnahmebedingungen diskutiert wurde, teilgenommen und ebenfalls ihre Bedenken vorgebracht. Aus dem Protokoll geht hervor, dass die Thesen gegen zwei Gegenstimmen angenommen wurden.

Unter Umgehung dieser Entwicklung in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gelangen die Autoren des Schwarzbuches und die Vertreter des Fortschreibens der Geschichte aus Sowjetzeit von den „21. Aufnahmebedingungen“ direkt zu den „Thesen über die Bolschewisierung der Kommunistischen Partei“ aus dem Jahre 1925. Bis dahin — heben die Schwarzbuchautoren hervor — wird die Komintern-Geschichte als Putschgeschichte geschrieben, vom Hamburger Aufstand und die Märzaktion 1923 über Estland und Bulgarien bis China. In der ersten Lesart, im Schwarzbuch, dominiert die Fremdbestimmung der kommunistischen Parteien durch die Kommunistische Partei Rußlands, während in der zweiten Lesart, z.B. im „Kurzen historischen Abriß“ der Geschichte der KI die Fremdbestimmung als von den nationalen Sektion als richtig erkannte und angenommene Politik ausgegeben wird.

Die Meinungsbildungsprozesse innerhalb der Parteien spielen in beiden Herangehensweisen keine Rolle. Egal ob es sich um die Einschätzung der Neuen ökonomischen Politik in Sowjetrußland (NÖP) oder die Auswertung der gescheiterten Aufstände durch die Führungen der Kommunistischen Parteien handelt. Die Jahre 1925 bis 1928, d.h. die Zeitspanne vom V. bis zum VI. Weltkongress der Komintern, werden von den einen bruchlos als „Stalinisierung“ von den anderen als „gesetzmäßige Herausbildung der Parteien neuen Typs“ beschrieben.

1.2. Versuche der bruchlosen Fortschreibung der Komintern-Geschichte

Im „Kurzen historischen Abriß“ der Komintern, der 1970 vom Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus unter Teilnahme und mit Hilfe von Funktionären der KI erarbeitet worden war (Walter Ulbricht und Friedl Fürnberg werden u.a. genannt), heißt es: „Auf der Grundlage der Verallgemeinerung der neuen historischen Erfahrungen und des Studiums des Kampfes der internationalen Arbeiterklasse und der nationalen Befreiungsbewegung der Völker entwickelte Lenin den Marxismus schöpferisch weiter, bereicherte ihn und hob ihn auf eine neue Stufe; eine neue Etappe der marxistischen Wissenschaft bildete sich heraus — der Leninismus.“

Die Geschichte der Komintern ist die Geschichte der Geburt und der raschen Entwicklung der modernen kommunistischen Bewegung. Ihre Reife wurde ständig mit der erfolgreichen Bekämpfung des Opportunismus aller Schattierungen in den eigenen Reihen identifiziert.

Im Zusammenhang mit der zweiten Lesart ist die Pauschalisierung der Komintern in Gestalt ihrer Erhöhung zum „führenden Zentrum der revolutionären Weltbewegung“ hervorzuheben. Die Struktur des Apparates der Komintern, deren Gründung zur „historischen Gesetzmäßigkeit“ erhoben wurde, blieb im Dunklen. (Erst 1997 publizieren Moskauer Komintern-Historiker ein Handbuch, in dem die Struktur des Apparates von 1919 bis zur Auflösung 1943 skizziert und kommentiert wird.) Eine Fehlerdiskussion wurde a priori unterbunden: Im „Kurzen historischen Abriß“ heißt es hierzu:

„Die Geschichte der Kommunistischen Internationale ist Gegenstand eines heftigen ideologischen Kampfes. Bürgerliche wie reformistische Historiker versuchen die Tätigkeit der Komintern zu verleumden. In der Arbeiterbewegung und sogar unter den Mitgliedern kommunistischer Parteien gibt es Leute, die versuchen die hervorragenden Verdienste der Komintern in Vergessenheit geraten zu lassen und die Aufmerksamkeit auf Fehler und falsche Beschlüsse zu konzentrieren. Aber ein solches Herangehen führt an die Geschichte der Komintern führt zur Entstellung der historischen Wahrheit und fördert nicht, sondern behindert die Ausnutzung der Erfahrungen und Traditionen der kommunistischen Bewegung für den gegenwärtigen Klassenkampf. Darüber hinaus kommt es […] zu direkten Angriffen auf die Grundprinzipien der kommunistischen Bewegung […]. Kein einziger Marxist-Leninist, kein einziger Internationalist kann mit einer derartigen Entstellung der Geschichte der Komintern einverstanden sein.“

Die Einleitung im „Kurzen Abriß“ endet ähnlich wie die Einleitung im „Schwarzbuch“ — nämlich mit dem Hinweis auf die Erfahrungen der Komintern als Waffe im Kampf um Frieden, Demokratie und Unabhängigkeit. Sowohl die einen wie die anderen Autoren zitieren das Marx-Wort, daß aus der Waffe der Kritik wird die Kritik durch die Waffe wird.

1.3. Anfänge der Neubewertung der Komintern-Geschichte

Bevor ich wichtige russische Editionen zur Neubewertung der Komintern vorstelle, möchte ich den Beginn der Neubewertung kommunistischer Geschichtsschreibung 1988/1989 in der UdSSR und die Reaktion darauf in der DDR Erinnerung rufen. Alle Generalsekretäre der KPdSU hielten am Leninismus — den sie so auslegen ließen, wie es ihnen genehm war — fest. Beispiele für die „Entdeckung“ Leninscher Texte, die nur dazu dienten, die jeweilige Politik der herrschenden Kommunistischen Partei zu autorisieren, gibt es genug. Hier sei nur an die stückweise Veröffentlichung von Lenins Bemerkungen zu Rosa Luxemburgs „Akkumulation des Kapitals“ erinnert. Während es unter Stalin den Vorrang der Produktion von Produktionsmitteln als den einzig richtigen Weg in die lichte Zukunft zu legitimieren galt, ging es in der Amtszeit von Leonid Breschnew um ein Gleichgewicht und unter Gorbatschow um den Vorrang der Produktion von Konsumtionsmitteln.

Während Nikolai Bucharin seine diesbezüglich Ausarbeitung zu Luxemburgs Akkumulationstheorie 1924/25 vorlegte, sind Wladimir Lenins Auszüge, Notizen und Bemerkungen zu Luxemburgs Akkumulationsschemata nicht vollständig, sondern immer nur auszugsweise 1933, 1975 und 1985 publiziert worden, um den wirtschaftspolitischen Kurs des gerade amtierenden Generalsekretärs Josef Stalin, Leonid Breshnew oder Michail Gorbatschow, zu legitimieren.

In dem im Lenin-Sammelband XXII publizierten Konspekt fehlen die Bemerkungen Lenins zu den Seiten 36 bis 159 und 160 bis 243 in Rosa Luxemburgs Buch. Wladimir Lenins Aussage lautet in der 1933 veröffentlichten Lesart: Abteilung I wächst schneller, als Abteilung II. Die 1975 publizierten Tabellen wurden 1980 in zahlreichen Artikeln in der „Wirtschaftswissenschaft“ und in den „Woprossy ekonomiki“ aufgegriffen und als „Bereicherung der Reproduktionstheorie“ propagiert. Beide Abteilungen — hieß es nun — können unter Bedingungen der erweiterten sozialistischen Reproduktion gleichermaßen schnell wachsen.

Diese Lesart unterschied sich von der Feststellung, daß die Priorität der Abteilung I bestehen bleibt, wobei die proportionale Entwicklung beider Abteilungen Leitlinie der Wirtschaftspolitik der KPdSU seit ihrem 25. Parteitag (1976) ist. Das war einer 1976 in Moskau veröffentlichten Studie „Über das Wechselverhältnis der beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion“ zu entnehmen, die eine erste Auswertung der im Leninsammelband XXXVIII veröffentlichten Tabellen enthielt.

1983, nach dem 26. Parteitag der KPdSU (1981) erschien eine zweite, überarbeitete und ergänzte Auflage, in der der Abteilung II größere Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Jetzt war nur noch von der Annäherung der Entwicklungstempi die Rede. Im 1985 veröffentlichten Leninsammelband wurden die bisher vorliegenden Auszüge aus Lenins Kapitalkonspekt um ein weiteres Stück ergänzt, anhand dessen das schnellere Wachstum der Abteilung II gegenüber der Abteilung I legitimierbar war. Zunächst folgte auch Michail Gorbatschow dieser Tradition: die Perestroika begann 1985 unter den Losungen „Zurück zu Lenin“ und „Beschleunigung“. Zu diesem Zeitpunkt verwarf der am Moskauer Institut für Archivwesen tätige Historiker Juri Afanasjew, 1988 Herausgeber des Bandes „Es gibt keine Alternative zu Perestroika“ die Oktoberrevolution und den Marxismus in Bausch und Bogen.

Zwischen diesen Extremen blieb die Hinwendung russischer Historiker zum eigenen Erbe oft halbherzig und inkonsequent, so wie Gorbatschows Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution. Inwieweit repräsentierten die wiederentdeckten Marxisten von Nikolai Bucharin bis Leo Trotzki wirklich Alternativen zum stalinistischen Modell, diese Frage wurde in der UdSSR nie richtig ausdiskutiert, die Archive nur schleppend geöffnet. Michail Gorbatschow verzichtete auf den Leninismus-Begriff. Sein Artikel in der Prawda vom 26. November 1989 „Die sozialistische Idee und die revolutionäre Umgestaltung“ war ein entscheidender Schritt auf dem Wege vom „Leninismus“ zu Lenin. Nachdem sich Gorbatschow als Politiker vom „Leninismus“ als dem Leitbegriff distanziert hatte und diese Abkehr in die Losung fasste, dass „Lenins Erbe nicht der Leninismus ist“, wandten sich die sowjetischen Partei-Historiker nicht den Fragen der Theoriebildung und dem Theoriebildungsprozess in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und in der internationalen Arbeiterbewegung zu, sondern fixierten ihre Aufmerksamkeit auf dem für sie wichtigsten bislang tabuisierten Thema: Stalin. Das Thema „die Komintern und Stalin“ war eher peripher. Eine Auswahl wichtiger Aufsätze ist 1990 in deutscher Übersetzung erschienen.

Ein weiterer Meilenstein auf diesem Wege war die Festveranstaltung aus Anlass des 120. Geburtstages Lenins, die Lenin nicht als Klassiker behandelte, sondern gleichberechtigt neben andere, Marx‘ Theorie verbundene Zeitgenossen stellte. Lenin galt von nun „offiziell“ als ein Beispiel für das schöpferische Herangehen an die Verwirklichung des sozialistischen Ziels. Auf diesem Hintergrund wurden zwei Thesen zur Diskussion gestellt: 1) Lenins Hoffnung, dass die Weltrevolution der russischen zu Hilfe eilen und sie vollenden würde, hatte sich nicht erfüllt. 2) Lenin hat kein vollendetes und allgemeingültiges Programm des sozialistischen Aufbaus hinterlassen.

In den Jahren der Perestroika gelang es sowjetischen Historikern lediglich, einen Bruchteil des Materials über den „unbekannten Lenin“ zu veröffentlichen. Noch während des Leninsymposiums in Wuppertal 1993 waren die aus Moskau angereisten Wissenschaftler nicht in der Lage, genaue Angaben über die noch zu erschließenden Lenin-Bestände in den Archiven ihres Landes zu machen.

1993 hat das Russische Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung der Dokumente der neuesten Geschichte eine acht Bände umfassende Ausgabe aller in diesem Archiv befindlichen und bisher nur teilweise bzw. nicht vollständig veröffentlichten Dokumente und Arbeiten Lenins angekündigt. Der Sommer 1993 markiert für das Moskauer Komintern-Archiv eine wichtige Zäsur: auf einer internationalen Tagung wurde die Notwendigkeit einer neuen Sicht auf die Kominterngeschichte angemahnt und betont, dass die Öffnung des einstigen Zentralen Parteiarchivs dem förderlich ist.

Auf die „Zerstörung des Mythos“ folgte zunächst die „Revision der Biografie“, die Demontage der Persönlichkeit. In diesem Zusammenhang sind jene Fährtensucher zu nennen, die neue Wegmarken setzten und ein von Utopie und Terror geprägtes Leben skizzierten. Von Dimitri Wolkogonow bis hin zu Anatolij Latyschew, der 1996 ein Buch über den „entsekretierten Lenin“ vorlegte, betonten diese Autoren, keine Biografie schreiben, sondern lediglich das bisher Verborgene ans Licht holen zu wollen. Anstelle der von russischen Forschern erwarteten seriösen Untersuchungen über Lenins Leben und Werk, darunter der letzten Lebensjahre, konfrontierten sie die Interessenten mit jahrzehntelang verborgenen Fotografien. Auf den letzten Aufnahmen aus Gorki vom Sommer 1923 ist Lenin im Rollstuhl zu sehen, halbseitig gelähmt, mit weit aufgerissenen Augen. Viele russische Publizisten wollten ihn so in Erinnerung behalten: als lebenden Leichnam.

Die 1997 in Rußland veröffentlichte Übersetzung der von Louis Fischer 1964 verfassten Lenin-Biografie ist auf diesem Hintergrund zu sehen. Zu einer anderen, eigenständigen und originären Antwort waren die russischen Historiker offensichtlich nicht in der Lage. Im Vorfeld und in Auswertung des 80. Jahrestages der Revolution von 1917 erschien wenig Neues zur Parteigeschichte. Das Material der Elgersburger Konferenz und der auf Anregung und mit Unterstützung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) entstandene Sammelband über das Jahr 1917 enthalten einige Wortmeldungen der russischen Kollegen zum Thema. Sie arbeiteten heraus, daß der Radikalismus nicht zuvörderst Ergebnis von Weisungen eines ZK, sondern Ausfluss von sozialen und mentalen Problemen nicht unbeträchtlicher Schichten des Proletariats war.

Auf dem Hintergrund des immer plastischer hervortretenden Parteienspektrums und der politischen Landschaft Sowjetrusslands, in Anbetracht des erschlossenen Neulands, z.B. der 1997 veröffentlichten Biografien von Julius Martow und Georgi Plechanow, verblasste das Lenin-Bild. Dafür trat die Kultfigur Lenin wieder stärker hervor. 1997 erschien die Übersetzung von Tina Tumarkins 1983 bei Harvard verlegten Studie „Lenin lebt. Der Leninkult in Sowjetrußland“ und eine Übersetzung des 1931 von Georgi Vernadski veröffentlichten Buches unter dem Titel „Lenin — der rote Diktator“.

Einfache Mitglieder der 15 russischen kommunistischen Parteien, die nicht so populär waren, wie der General aus der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetarmee Dmitri Wolkogonow oder der Dozent für Marxismus-Leninismus Latyschew, erklärten, weiter unter dem Banner des Leninismus schreiten zu wollen. Auf der im April 1995 vom Bund der Kommunistischen Parteien und einigen Organisationen linker Wissenschaftler in Gorki Leninskie organisierten Veranstaltung „Lenin und die Gegenwart“ scheiterte der nüchterne Versuch russischer Historiker, die Apologeten in die Schranken zu weisen. Die „Leninisten“ hatten Lenins Bildnis längst durch das seines schnauzbärtigen „Nachfolgers“ ersetzt. Typische, in diesem Geiste verfasste Publikationen sind: „Achtung: Falsifikation des Leninbildes“ (1992) und „Der große Lenin und die Pygmäen der Geschichte“ (1996). Intellektuelle aus dem Umfeld der KPRF „vollendeten“ die Ausgabe der Werke Stalins, die sofort Sponsoren und reißenden Absatz fand. Bei ihrem Herausgeber, R. Kosolapow, handelt es sich um den letzten Chefredakteur der theoretischen Zeitschrift der KPdSU, „Kommunist“.

Als endlich die immer wieder verschobene Edition (die Dumafraktion der KPRF hatte nie genug Geld), die nicht die x-te Lesart, sondern die wirklich unbekannten Dokumente Lenins aus den Jahren 1891 bis 1922 vorstellte, 1999 ausgeliefert wurde, schien das Interesse an dem, „was Lenin wirklich sagte“, erloschen zu sein. In den zwei Jahren zwischen der von Richard Pipes besorgten umstrittenen Ausgabe und der von Wladlen Loginow eingeleiteten russischen Edition war wenig Bewegung in der russischen „Leniniana“ zu spüren.

Lenin profitierte genaugenommen von der Hinwendung russischer Publizisten zu den Biografien seiner Kampfgefährten. Die zwischenmenschlichen Beziehungen in Lenins Umgebung sind heute Gegenstand einer eigenen Forschungsrichtung.

Während der Perestroika spitzte sich in der SED die Auseinandersetzung über die Geschichte der KPdSU zu. Die Abteilung Propaganda beim Zentralkomitee, die Parteihochschule und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften legten im November 1987 eine „Handreichung für den Lehrgang ‚Geschichte der KPdSU’“ unter dem Titel „Die Geschichte der KPdSU — ein nie versiegender Quell revolutionärer Erfahrungen im Kampf für Frieden und Sozialismus“ vor. Damit sollte die SED auf einen Kurs eingeschworen werden, von dem sich die Autorenkollektive der veröffentlichten Darstellungen über die Geschichte der KPD und der SED schon längst verabschiedet hatten. In der Partei- und Theoriegeschichtsschreibung wurde in den unterzeichnenden Bildungseinrichtungen — für die Akademie für Gesellschaftswissenschaften weiß ich das genau — aber auch am Institut für Marxismus-Leninismus, längst konzeptionell anders geforscht. Das betraf die Absage an die Einschätzung der Oktoberrevolution als Leitrevolution, die Analyse der Organisationsgeschichte der KPD und die Untersuchung der Theoriebildung in der kommunistischen Bewegung als kollektiven Diskussions- und Meinungsbildungsprozess.

Diese Forschungen, die bis zur Theoriebildung in der II. Internationale zurückgingen, kollidierten mit tradierten „marxistisch-leninistischen“ Überlieferungen der Partei-, Revolutions- und Staatstheorie. Annelies Laschitza über Rosa Luxemburg, Studien über Otto Bauer, Karl Kautsky und Eduard Bernstein. Im Band 1 der auf vier Bände konzipierten SED-Geschichte aus dem Jahre 1988 wurde die Entwicklung „Von den Anfängen bis 1917“ untersucht. Annelies Laschitza, Leiterin des Autorenkollektivs, hatte damals in einer Besprechung in der BzG (Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung) 1/1989 diesbezüglich geschrieben: „Der Verzicht auf eine Unterteilung in zwei Bände erleichterte es, den Prozeßcharakter der Entwicklungstendenzen in der Sozialdemokratischen Partei beim Übergang in das imperialistische Zeitalter in der realen Widersprüchlichkeit des historisch-konkreten Geschehens besser zu verdeutlichen. Auf diese Weise konnte auf ausführliche Passagen über Lenins Imperialismus-, Revolutions- und Parteiauffassungen verzichtet werden, die — wie bisher üblich bei Beginn des 20. Jahrhunderts — als theoretischer ‚Balkon‘ vorangestellt, fast zu dogmatischen Bewertungskriterien erstarrten und eine historisch gerechte Beurteilung von Ereignissen und Erkenntnissen teilweise erschwerten.“

Lenins theoretische Erkenntnisse wurden damit nicht übergangen, sondern dann und dort behandelt, wo sie theoretisch entstanden, bzw. praktisch wirksam wurden.

Die Wurzeln und die Grundlagen der Parteienentwicklung, denen sich die Historiker zuwandten, schloss die Verzahnung von Parteigeschichte und Theorieentwicklung mit ein. Untersucht wurde die Entwicklung der KPD aus der deutschen Sozialdemokratie heraus, wobei letztere als marxistische Massenpartei gefasst wurde. Neu war, dass der Einstieg die Auseinandersetzung mit dem Krieg thematisierte und nicht — wie bis dahin üblich — die Auswirkung der auf die Oktoberrevolution reduzierten Ereignisse des Jahres 1917. Eine heute noch lesenswerte Darstellung der Komintern-Geschichte legte Horst Schumacher 1989 in 2. überarbeiteter Auflage vor.

„Bei der Analyse des Weges, den die Komintern […] zurückgelegt hat, werden auch die komplizierten und widersprüchlichen Momente ihres Wirkens nicht außer acht gelassen. So geht der Autor auf die Rolle J. W. Stalins in der Komintern ein und auf die komplizierten Probleme, vor denen das einzige sozialistische Land der Welt am Vorabend und in der ersten Phase des zweiten Weltkrieges stand.“

Der Leipziger Historiker Klaus Kinner ist einer der wenigen Kollegen aus dem damaligen Forschungszusammenhang, der auch heute die Möglichkeit hat, zum Thema zu forschen und zu publizieren . Seine These lautet: der letztlich gescheiterte Parteikommunismus vom Typ der Oktoberrevolution ist nicht von Anbeginn und irreversibel auf den Weg in die stalinistische Sackgasse orientiert gewesen. Seine damit zusammenhängende zweite, unter Berufung auf Ernst Meyer formulierte These lautet: „Der eigentliche Geburtsakt der KPD war nicht die Russische Revolution, sondern der erste Kriegstag.“

Sein Resümee: Das Projekt der Oktoberrevolution ist gescheitert und mit ihm der Parteikommunismus bolschewistischen Typs. Erst mit der Einsicht dieses Scheiterns eröffneten sich neue Perspektiven. Der endgültige Bruch mit dem Paradigma des Marxismus-Leninismus“ ermöglicht, sich Fragen des Scheiterns und möglichen Alternativen zuzuwenden.

Im Unterschied zu Kinner sieht Horst Klein die Ursachen des späteren Scheiterns des Kommunismus bereits genetisch angelegt in der undemokratischen Parteiauffassung der Bolschewiki sowie in der Auflösung der ersten im November 1917 demokratisch gewählten russischen Konstituante und in der damit vollzogenen militanten (antagonistischen) Abkehr von der parlamentarischen Demokratie und demokratisch strukturierten Arbeiterbewegung. Der Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur war dem Geburtsprozess des Bolschewismus bzw. Parteikommunismus — hier unterscheidet er nicht — immanent. Dessen ungeachtet wirkte die Russische Revolution vom Februar bis Oktober 1917, wie Kinner herausarbeitet, „als Initialzündung für einen revolutionären Prozeß, der erstmals den Weltkapitalismus erschütterte“ und der Arbeiterbewegung kraftvolle Impulse für die reale Veränderung der Welt im 20. Jahrhundert gab“.

Klein folgt Kinners Darstellung, wonach der Kommunismus und sozialdemokratische Linkssozialismus zunächst von drei Prämissen ausgingen: Erstens von der Annahme, „daß der Kapitalismus mit Krieg und Nachkriegskrise am Ende seiner Entwicklungsmöglichkeiten angelangt sei und sein Zusammenbruch bevorstünde“. Zweitens erschien die Russische Revolution als Auftakt einer Weltrevolution. „Drittens glaubten nicht nur Kommunisten an die langfristige wirtschaftliche Überlegenheit des Sozialismus, und sei dies nur in einem Lande.“ Die in diesen Prämissen enthaltenen utopischen Momente, auf die u.a. Bernstein, Kautsky und Hilferding frühzeitig aufmerksam machten, wandelten sich zu Dogmen kommunistischer Theorie und Politik, die letztlich in der historischen Sackgasse einer in ihrem Wesen antisozialistischen Diktatur mündeten. Horst Klein lehnt es ab, die Geschichte des Parteikommunismus, trotz seines Scheiterns, seiner Opfer und historischen Langzeitschäden, als „Schwarzbuch“ zu schreiben. Er plädiert für die Rekonstruktion seines widersprüchlichen Selbstverständnisses und seiner milieugeprägten Verortung. Beide Seiten sind in besonderem Maße für die Aufhellung der regionalen bzw. basisorientierten Forschung unerlässlich.

Mario Kessler, heute tätig am Zentrum für Zeithistorische Forschungen in Potsdam, hat in einem Aufsatz „Die Komintern in historischer Perspektive“ skizziert.

Er folgt dem deutschen Historiker und Exkommunisten Franz Borkenau, der in der Geschichte der Komintern, die er von Anfang an als mit einem Geburtsfehler behaftet bezeichnet, drei große Perioden unterschied: Diese Sicht ist unter den Forschern die verbreitetste: Erstens die Periode (ungefähr die Amtszeit von Grigori Sinowjew — bis 1926/1927), in der die Komintern ein Instrument zur Herbeiführung der Weltrevolution war, eine zweite Periode von 1928 bis 1935 (die Amtszeit von Nikolai Bucharin reichte bis Anfang der 30er Jahre), in der sie ein Instrument der russischen Fraktionskämpfe und eine dritte Periode (Amtszeit von Georgi Dimitroff), in der sie ein Instrument der russischen Außenpolitik war. 1936 bis 1943.

Die erste Periode in der Geschichte der neugegründeten Propagandaorganisation lässt sich weiter untergliedern: 1919-1924 Einheitsfrontbewegung; 1924-1928 (einige datieren sie bis 1930) Bolschewisierung. Diese wurde immer mehr in einen Stab der Weltrevolution umgestaltet. Für den Übergang zwischen der ersten und zweiten Periode steht die VII. Erweiterte Tagung des EKKI (Exekutivkomitee der Komintern) vom November/Dezember 1926. Ihr Vorsitzender Grigori Sinowjew wurde durch ein Politsekretariat ersetzt. Die darauffolgende zweite Periode währt bis zur Einreise Georgi Dimitroffs in die Sowjetunion 1934. Wichtig an diesem Zugang ist die eingeschlossene Analyse des Theoriemodells, dem die Komintern folgte. Die Konzeption der sozialistischen Revolution war kein bloßes ideologisches Postulat (wie die Vertreter der ersten Lesart meinen), sondern resultierte aus der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft.

In jeder der genannten Perioden fanden Auseinandersetzungen innerhalb der in der Komintern organisierten Sektionen und zwischen diesen statt. Zu den wenig untersuchten Debatten in der ersten Periode gehört die von der Arbeiteropposition innerhalb der Russischen Kommunistischen Partei initiierte Diskussion über die Einheitsfront. Im Februar 1922 wandten sich 24 Mitglieder der Arbeiteropposition an das EKKI mit einer Erklärung, in der sie die Innenpolitik und die Parteilinie der KPR(B) kritisierten.

Die Einheitsfront, über die das EKKI beriet, lautete der Grundtenor der Erklärung, wird weder in Sowjetrußland noch in der KPR(B) praktiziert. Das EKKI antwortete, die Kritiker „rennen offene Türen ein“ und verlangte, sie sollten sich um die Partei scharen und die Einheit und Geschlossenheit der Reihen festigen. Innerhalb der KPR(B) wurde diese Haltung als parteischädigend eingeschätzt und Aktivisten der Arbeiteropposition auf Beschluß des 11. Parteitages (März/April 1922) aus der KPR(B) ausgeschlossen.

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