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Zum EU-Beitritt der Türkei

  • Dienstag, 18. Januar 2005 @ 19:30
Europa Positionspapier der Werkstatt Frieden & Solidarität zu den Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei

I. Die Entscheidung über den Beginn von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei fällt zusammen mit dem Ratifikationsprozess über den EU-Verfassungsvertrag. Gleichzeitig wurde das EU-Headline-Goal 2010 verkündet - die Kriegsfähigkeit à la Irak bis zum Jahr 2010 -; die Rüstungsagentur wird eingerichtet; die ersten EU-Schlachtgruppen werden aufgestellt; die Bolkestein-Richtlinie, die einen weiteren Liberalisierungs- und Privatisierungsschub bringen wird, wartet in der Schublade. Die Herstellung des Elitenkonsens in der Frage von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei muss im Zusammenhang betrachtet werden. Eine auf einem radikalisierten Markt fußende, militarisierte EU ist mit beschränkter Dauerhaftigkeit konfrontiert. Sie befindet sich in einem Prozess der Zuspitzung der Konkurrenz zwischen den Eliten der großen Nationalstaaten.

Im Bericht der EU-Kommission an den EU-Rat wird die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei empfohlen. Ein Vollbeitritt der Türkei wird zu einem Zeitpunkt in 10 - 15 Jahren, mitunter sogar 20 Jahren in Aussicht gestellt. Niemand kann aber seriös prognostizieren, was in 10 Jahren sein wird. Die entscheidende Frage für uns ist deshalb: Welcher Prozess wird durch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei in der Türkei und in der EU ausgelöst, und wie steht dieser Prozess im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung in der EU?

II. Die Türkei ist heute eine sehr dynamische Wirtschaftsregion, mit Wachstumsraten über 5 % p. a. Der Konsens über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen dient u. a. auch dazu, ungehinderten Zugang zu diesem wachsenden Markt zu gewinnen.

III. Ein Großteil der türkischen Unternehmen - auch der börsenotierten - befindet sich überwiegend im Staatsbesitz. Der Zugang zum türkischen Kapitalmarkt inkl. Privatisierung dieser Betriebe bereits während des Verhandlungsprozesses - erinnert sei an die Änderung der entsprechenden Regelungen in Österreich teilweise bereits lange vor dem Beitritt - würde die Weltstellung des europäischen Finanzkapitals stärken.

IV. Die Türkei ist ein Land mit einer gerade im Vergleich zu den anderen EU-Staaten sehr jungen Bevölkerung. Über den ungehinderten Zugang zu diesem Arbeitskräfteangebot soll zur Sanierung der Profite der europäischen Konzerne beigetragen werden. Die Menschenrechtssituation hat sich formal-rechtlich wohl in letzter Zeit verbessert, in der Praxis der Sicherheitsbehörden existieren jedoch nach wie vor verbreitet Willkür und Folter.

V. Die Türkei bildet geostrategisch das Tor zu den politisch instabilen rohstoffreichen (Erdöl-)Regionen im Nahen Osten, Transkaukasien und Mittelasien. Vermittels der Türkei Zugang zu diesen strategischen Rohstoffen zu bekommen, wird in der Zwischenzeit unverhohlen als Ziel der Beitrittsverhandlungen ausgesprochen. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer zunehmenden Krise der US-Hegemonialpolitik in der Nahost-Region.

VI. Machtprojektion vermittels Militärinterventionen sind eine kostenintensive Angelegenheit wie sich am Beispiel des US-Budgetdefizits angesichts des fortdauernden Irak-Kriegs zeigt. Nicht nur wegen der eingesetzten Rüstungsgüter, sondern auch wegen des Menscheneinsatzes. Gesellschaften mit einer niedrigen Fertilitätsrate neigen dazu, sich den militärischen Ambitionen ihrer Eliten zu verweigern. Ein Einsatzmonat eines österreichischen Soldaten im Kosovo z. B. kostet sicherlich mehr als 60.000,- monatlich, Ausbildungskosten und Infrastrukturkosten nicht miteingerechnet. Die Türkei verfügt über gut ausgebildete, teilweise kampferfahrene Soldaten. Diese sollen für den EU-Militärinterventionismus verfügbar gemacht werden.

VII. Der Prozess der Beitrittsverhandlungen wird deshalb zu einem Prozess der Transformation der Türkei im Interesse der Eliten der großen europäischen Staaten. Als Druckmittel gegen die Türkei steht die ungelöste Frage des Status der kurdischen Menschen zur Verfügung.

VIII. Gegen Beitrittsverhandlungen werden die aus dem Agrarmarkt und der enormen regionalen Strukturdifferenzen erwachsenden finanziellen Belastungen ins Treffen geführt. Übersehen wird dabei, dass eine Absicht der Beitrittsverhandlungen eben die Umstrukturierung der Budgettöpfe bildet. Nicht umsonst fällt die Entscheidung exakt vor Beginn der Verhandlungen über den Finanzrahmen. Damit können sowohl die Begehrlichkeiten der jüngst beigetretenen Staaten abgewehrt werden, als auch insgesamt eine Umschichtung von Agrar und Regionales hin zu Forschung und Rüstung eingeleitet werden (vgl. dazu auch das Statut der Rüstungsagentur).

IX. Voraussetzung für den Konsens in der Frage der Türkei war eine Wende in der Position Berlins. Den USA - aber auch GB und Polen - wurde bis dato unterstellt, mit der Aufnahme der Türkei würde diese die Herstellung der politischen Union torpedieren. Was aber wirklich in Gang kommt ist die „Berliner Doppelmühle“. Die Beitrittsverhandlungen werden die Position Berlins in der EU stärken. Wie schon bei der WWU oder der EU-Verfassung wird es jetzt heißen: entweder politische Union (= starke Stellung Berlins in den zentralen demokratiefreien Instanzen: Rüstungsagentur, Kommission) oder Sonderbeziehungen Berlins nicht nur mit Paris, Ankara oder anderen variierenden Adressen (d. h. wechselnde Bündnisse). Die Gusenbauer-SPÖ apportiert dieses Hölzl bereits.

X. Die derzeit laufende öffentliche Debatte über den EU-Beitritt der Türkei lenkt von allen diesen Fragen ab und ist deshalb Beschäftigungstherapie für Gescheitheitsgeister aller Couleur. Wir lehnen diese Debatte insbesondere auch wegen ihrer chauvinistischen und rassistischen Konnotationen strikt ab. Es kann nicht darum gehen, ob die Türken europareif sind, es kann nicht darum gehen, ob sie Asiaten oder Europäer sind, Moslems oder Christen. Die EU ist ein Elitenprojekt zur Wahrung ihrer Interessen, die EU ist ein aggressives Weltmachtprojekt. Dieses Projekt entspricht weder den Interessen der Menschen in der Türkei noch den Interessen und Haltungen der Menschen in Österreich, unabhängig davon, ob sie oder ihre Vorfahren aus der Türkei, aus Österreich oder sonst einem Land in Europa kommen. Vorrang hat für uns das Engagement für ein souveränes, neutrales, solidarisches und weltoffenes Österreich. Wir sind solidarisch mit allen Menschen in der Türkei, die sich für die Durchsetzung von demokratischen und sozialen Rechten einsetzen.

Plenum der Werkstatt Frieden & Solidarität, 18.1.2005

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