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Kapitalismus und Krieg

  • Dienstag, 2. September 2014 @ 08:40
Frieden Konfliktursachen in der kurzfristigen Ereignisgeschichte und in der »longue duree« von Elmar Altvater

Nur zweieinhalb Jahrzehnte nach der Auslösung des Ersten Weltkriegs 1914 wurde 1939 der Zweite Weltkrieg angezettelt. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1945 sind bis 2014 fast sieben Jahrzehnte verstrichen, in denen ein prekärer und immer gefährdeter Frieden - jedenfalls in Mitteleuropa - herrschte. Ist das »Zeitalter der Extreme«, als das Eric Hobsbawm das »kurze« 20. Jahrhundert bezeichnete, das von 1917 (Russische Revolution) bis 1989 (Ende des real existierenden Sozialismus) dauerte, im 21 Jahrhundert vorbei? Oder haben doch diejenigen recht, die die Menschheit bereits am Rande eines Dritten Weltkriegs sehen, der bisher lediglich einen Bogen um Mitteleuropa geschlagen hat?

Kriegerische Vabanquespiele

Gerade angesichts dessen, was 2014 in der Ukraine geschieht, sind Gedanken an das »Hineinschlittern« in den Ersten Weltkrieg im Jahre 1914, von dem auch 2014 noch immer die Rede ist, nicht fernliegend. Doch anders als vor 100 Jahren spielen heute strukturelle Kriegsgründe eine bedeutendere Rolle als die gedankenlosen Taten und stümperhaften Rechtfertigungen der als »Schlafwandler« bezeichneten Kriegsparteien von 1914, die in »verbrecherischer Verantwortungslosigkeit« - so Wolfram Wette (Blätter 1/2014: 53) - die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, den Ersten Weltkrieg, auslösten.

Die strukturellen Ursachen für heute schwelende Konflikte hat Erik Hobsbawm in einem Interview mit dem »Stern« - etwa ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Lehman-Bank im September 2008 – sehr pessimistisch, aber wie er sagt »realistisch« prognostiziert: »Es wird Blut fließen, viel Blut«, denn »die Welt riskiert im Augenblick eine Explosion wie eine Implosion... Entweder hören wir mit der Ideologie des Wachstums auf, oder es passiert eine schreckliche Katastrophe ... Heute geht es um das Überleben der Menschheit.« (In: Stern 20/2009) Der Erste Weltkrieg mit seinen 17 Millionen Toten, darunter mindestens sieben Millionen Zivilpersonen, war schrecklich und die Hauptakteure haben sich eines großen Verbrechens schuldig gemacht, aber das Überleben der Menschheit stand nie auf dem Spiel.

Diese Sichtweise wird keineswegs allenthalben geteilt. Anders als Eric Hobsbawm erinnert der Historiker Joachim Radkau ganz undramatisch in einem Essay über »die Kriegsbücherflut« 100 Jahre nach der Auslösung des Ersten Weltkriegs daran, dass »Katastrophen wesentlich aus dem Unberechenbaren, manchmal aus scheinbar läppischen Vorfällen (entstehen)« (Die Zeit, Nr. 3/2014, online). Wenn es so ist und Kriege unberechenbar sind, muss die Kriegsschuldfrage nicht aufgeworfen werden, die der Hamburger Historiker Fritz Fischer in den frühen 1960er Jahren gestellt und eindeutig beantwortet hatte: Das Deutsche Reich und seine entscheidenden Eliten tragen die Hauptverantwortung für die von George Kennan so genannte »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts, »für das Ereignis, in dem stärker als in irgendeinem anderen - mit Ausnahme der Entdeckung von Kernwaffen und der Entwicklung der Bevölkerungs- und Umweltkrise - Versagen und Niedergang unserer westlichen Zivilisation begründet liegen« (Kennan, zit. nach: Bollinger, ND, 2.12.2013).

Katastrophen, so argumentiert ganz ähnlich wie Joachim Radkau mit organisationssoziologischem Hintergrund und ohne direkten Bezug auf den Krieg Charles Perrow, sind »normal« und in eng gekoppelten und komplexen Systemen unvermeidbar. Und wer wollte bestreiten, dass das kapitalistische Weltsystem komplex und eng gekoppelt ist? Also doch in die Kriegskatastrophe hineingeschlittert, wie der britische Kriegspremier Lloyd George während des Ersten Weltkriegs ohne historischen Abstand vermerkte und wie es aus 100-jähriger Distanz heute von Christopher Clark oder Herfried Münkler in ihren historischen Werken über den Ersten Weltkrieg wiederholt wird? Chaostheoretisch spricht einiges für diese These, die den Vorteil hat, die moralische Frage nach der Kriegsschuld zu vermeiden, die Fritz Fischer, mit dem im Übrigen Joachim Radkau als junger Wissenschaftler zusammengearbeitet hat, so lautstark aufgeworfen hatte, dass das Echo bis heute, ein halbes Jahrhundert nach der Publikation von »Der Griff nach der Weltmacht«, noch zu vernehmen ist.

Allerdings muss einiges erklärt werden: Warum war die historische Rutschbahn vor 100 Jahren so glatt und abschüssig? Was und wer hat die Akteure veranlasst, sich ohne Hilfe und rutschfestes Schuhwerk darauf zu begeben und Vabanque zu spielen? Warum taten sie (wie heute die Hasardeure auf den globalen Finanzmärkten) »in irrationalem Überschwang« (wie Alan Greenspan, selbst ein Hasardeur, ihnen unterstellte), sehenden Auges genau das, was in die Katastrophe führte? Warum gingen sie Allianzen ein (wie Deutschland mit dem Habsburger Reich) und gerieten dabei in eine Falle, durch die der politische Entscheidungsspielraum auf Null reduziert wurde? Warum pulverisierten sie die zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits hochentwickelten und in Weltausstellungen stolz präsentierten Produktiv- als Destruktivkräfte in immensen Materialschlachten?

Wie in der griechischen Tragödie lassen sich die Akteure nicht von Vernunft und Vorsicht beirren. Sie fallen auf Provokateure herein, die die Instabilität der Lage ausnutzen, oder sie provozieren selbst und versuchen die Gunst des Augenblicks zur Rechtfertigung für einen Angriff zu nutzen, von dem die Hasardeure hoffen, einen Gewinn einzufahren, von dem besonnene Zeitgenossen aber wissen, dass er katastrophale Verluste zur Folge haben wird. Und sie unterschätzen systematisch die Kapazitäten des Gegners, zu reagieren und die Bevölkerung eines wirtschaftlich entwickelten Landes in den Hunger zu treiben.

Im Juli 1914 begann der Wahnsinn, als die Habsburger K.u.K.- Monarchie auf die Schüsse von Sarajewo mit dem von Karl Kraus in den »letzten Tagen der Menschheit« protokollierten Kriegsgeschrei »Serbien muss sterbien« reagierte und Deutschland an der Seite Kakaniens (so bezeichnet Robert Musil Österreich- Ungarn) in den Krieg zog. Einige sagen: in einen von den Eliten des Deutschen Reiches herbeigesehnten, ja bestellten Krieg, der den Vorwand für die Kriegserklärung an das Zarenreich lieferte. Die Handlungsfolge war wie in einem modernen Computerprogramm festgelegt. Der Schlieffenplan des kaiserlichen Militärs basierte auf der Handlungsfolge: Erst ganz schnell Frankreich niederzwingen und dann mit aller Macht gen Osten.

Das perfide Spiel zur Rechtfertigung einer Aggression wiederholte sich 25 Jahre später 1939 bei der Nazi-Inszenierung eines Überfalls auf den Sender Gleiwitz, der den wirklichen Überfall der Nazi-Armee auf Polen am 1. September 1939 in das freundliche Licht der gerechtfertigten Verteidigung gegen eine Aggression rücken sollte. Das Muster eines fingierten Angriffs und der dadurch legitimierten Verteidigung war so überzeugend, dass es auch die U.S. Army 1964 nutzte und mit dem »Tonkin-Zwischenfall« die dann mehr als ein Jahrzehnt währende Bombardierung Vietnams »zurück in die Steinzeit« rechtfertigte, wie der US-General Westmoreland sich ausdrückte. Für seine Worte und Taten hat er mehrere Orden eingesammelt. Erst der Whistleblower Daniel Ellsberg zerriss in den 1970er Jahren mit der Veröffentlichung der »Pentagon-Papiere« das Lügengespinst der Kriegsrechtfertigung.

Die Rechtfertigung des Kriegs war so primitiv, dass dieses Muster auch bei der Bombardierung Serbiens 1999 herhalten konnte. Die Lüge des »Hufeisenplans« diente Herrn Scharping, Bundesverteidigungsminister unter Rot-Grün, dazu, die serbischen Truppen auch ohne UNO-Mandat aus dem damals eindeutig serbischen Kosovo durch NATO-Kampfbomber vertreiben zu lassen. Die Behauptung, eine umfängliche Vertreibung von Albanern aus dem Kosovo drohe, ist inzwischen als Lüge entlarvt, doch weder Scharping noch Fischer noch die mitverantwortlichen NATO-Oberen haben dafür büßen müssen. Die einige Jahre später für das Herauslösen des Kosovo aus dem serbischen Staatsgebiet genutzte Begründung wird im Fall des pro-russischen Volksentscheids auf der Krim heute nicht akzeptiert.

Das bekannteste Lügenbeispiel aus jüngerer Zeit ist die Farce, die US-Verteidigungsminister Powell 2001 dem UN-Sicherheitsrat und Milliarden Fernsehzuschauern in aller Welt in einer Diashow über Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen vorgaukelte. Der mit kolossalen Lügen gerechtfertigte Krieg im Zweistromland hat einigen Hunderttausend Irakern das Leben gekostet und ein zerstörtes Land, eine vernichtete Kultur, eine ganze Region im Chaos und auch eine moralisch dauerhaft beschädigte Supermacht hinterlassen. Es gibt aber noch eine Hinterlassenschaft: der Zugriff auf die Öl- und Gasressourcen des Mittleren Ostens. Mit den fossilen Treibstoffen kann das Wachstum der Wirtschaft weiter angetrieben werden, das uns, wie Eric Hobsbawm in dem angeführten Zitat vermutet, die nächste Katastrophe eintragen könnte.

Tiefenschichten von Kriegsursachen

Es macht zur Urteilsfindung in einem vielschichtigen historischen Prozess Sinn, methodisch mit Fernand Braudel zwischen der »kurzfristigen« Ereignisgeschichte, den »mittelfristigen« Konjunkturen und den »langfristig« wirkenden, in den Strukturen des gesellschaftlichen Lebens angelegten Tendenzen, der »longue duree« also, zu unterscheiden, obwohl es in Zeit und Raum nur eine Geschichte, freilich eine »vielschichtige Geschichte« gibt. Die nervösen Machtspiele, die politischen Querelen, die Betrügereien, Finten und Vorwände, die manchmal die Intelligenz beleidigenden Lügen sind der Stoff der Ereignisgeschichte. Der historische Erklärungswert ist eher gering, denn Lügen haben kurze Beine. Die Rechtfertigungslügen kriegerischer Aggressionen sind aus dem historischen Abstand durchsichtig und fad, über die Tiefenschichten von Kriegsursachen sagen sie so gut wie nichts. Dass die Akteure in einen Krieg »hineinschlittern«, hält einer auch nur oberflächlichen Betrachtung geschichtlicher Abläufe nicht stand.

Man muss die Geografie der Ressourcen, die Entwicklungsgeschichte der Natur, die ökonomischen Strukturen, die materiale Basis politischer Macht, die kulturellen Traditionen und vieles mehr aus der Strukturgeschichte, so wie Fernand Braudel in seiner dreibändigen Studie über das Mittelmeer in der Epoche Philipps II., berücksichtigen, um die Dynamik von Interessengegensätzen in der »longue duree« und in den Konjunkturen der Geschichte verstehen zu können, um die Ereignisgeschichte des Schlitterns in den Ersten Weltkrieg, also die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts, überhaupt deuten zu können.

Es ist daher sinnvoll und notwendig, sich mit dem Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg auseinanderzusetzen. »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen«, schrieb der französische Sozialist Jean Jaures, der am 31. Juli 1914, also am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in Paris ermordet wurde. Wann und wo die Wolke abregnet, mag vielen Zufällen und erratischen Ereignissen geschuldet sein. Dass es regnen wird, ist aber sicher. Die Ursachen für die aufgezogenen schwarzen Gewitterwolken, für die instabile Lage, in der sich aus verschiedenen Gründen alle Akteure zu Beginn des 20. Jahrhunderts befanden, sind eher in der imperialistischen Konkurrenz der europäischen Kolonialmächte um Ressourcen, um Märkte und Räume für die Anlage brachliegenden Kapitals zu suchen.

Lenins Imperialismustheorie oder Rosa Luxemburgs Theorie und Geschichte der Akkumulation des Kapitals sind da für das Verständnis der Kriegsursachen 1914 aufschlussreicher als die Untersuchung der »inneren« Spannungen in den beteiligten Nationen und der Reflexe, die diese in den Parteienkonstellationen und dann auch in der Außen- und Militärpolitik der Nationalstaaten finden. Selbst bei der Flottenrüstung ging es noch um die Ausweitung von Einflusssphären in Europa und in den Kolonialgebieten Afrikas und Asiens zugunsten des jeweiligen nationalen Kapitals. Strukturgeschichtlich betrachtet begann der Erste Weltkrieg schon vor 1914, in den Kolonialgebieten Afrikas und Asiens, in China, Indien oder Ägypten und im Kongo, wo sich alle späteren Kriegsgegner des Ersten Weltkriegs bedienten und Regime von Mord und Totschlag zur Ausbeutung von Land und Leuten errichteten. Die Deutschen in Südwestafrika, die Engländer in Indien und Ägypten, die Niederländer in Indonesien und die Belgier im Kongo - um nur einige Beispiele zu nennen.

Schon vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs stand die Neuaufteilung der Welt auf dem Programm des jeweils nationalen Kapitals mit seinen die imperiale Politik tragenden »Flottenvereinen«, »Wehrvereinen«, den Vaterlandsverteidigern, Veteranenverbänden etc., mit den imperialen Projekten wie der von Deutschland geplanten »Bagdadbahn« oder dem »Great Game« um das Öl des Kaukasus, an dem sich nahezu alle Kolonialmächte beteiligten. Der Imperialismus war nicht nur Ausgeburt kapitalistischer Interessen, Leitlinie der Staatspolitik, sondern auch in Kultur und Bewusstsein der Massen verankert. Darauf geht unmissverständlich Rosa Luxemburg ein.

Die Politik der imperialistischen Neuaufteilung ist grausam, wird aber selten mit dem Weltkrieg in Verbindung gebracht, weil davon vor allem Völker in der später so genannten Dritten Welt betroffen waren. Daran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert. Auch die internationalen Organisationen von heute, die OECD, der IWF oder erst jüngst in ihrem »World Trade Report« von 2013 die WTO ziehen eine Kontinuitätslinie von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Vor dem Ersten Weltkrieg können wir nach Einschätzung der Welthandelsorganisation (WTO) »das erste Zeitalter der Globalisierung« ausmachen.

Das ist eine goldene Zeit der Expansion des Welthandels, der Modernisierung und hoher Wachstumsraten. Wachstum ist unter kapitalistischen Bedingungen Kapitalakkumulation. Diese ist durch ökonomische und soziale Widersprüche gekennzeichnet und es spitzen sich politische Interessensgegensätze zu, die zur »Urkatastrophe« führen können, wenn sie nicht klug reguliert und moderiert werden. Das ist in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht geschehen. Das ist die schreckliche Zeit der Großen Kriege, der Weltwirtschaftskrise und des »Faschismus in seiner Epoche« mit dem Nationalsozialismus als seinem schrecklichen Extrem. Die WTO verharmlost diese Phase mit ihrer Sprachregelung als eine Zeit der »Deglobalisierung«.

Erst nach 1945 beginnt mit der Errichtung der Ordnung von Bretton Woods wieder eine ruhige Zeit der von der WTO so genannten »Reglobalisierung« (WTR 2013: 46-55). Auch wenn man dieser Grobgliederung historischer Prozesse folgt, sollte man die Reglobalisierung nicht als Rückkehr zu den ökonomischen und politischen Verhältnissen vor 1914 deuten. Denn die Welt hat sich in der »longue duree« grundlegend verändert und im »Zeitalter der Extreme« ist auch die Entwicklung von Gesellschaft und Technik, von Ökonomie und Politik, von Kultur und Alltagsleben enorm beschleunigt worden.

Einen großen Krieg im 25-Jahre-Abstand wie zwischen 1914 und 1939 hat es nicht gegeben, wohl aber einen Kalten Krieg von 1945 bis 1989, der, wie der britische Historiker Edward P. Thompson warnte, ein »exterministisches« Potenzial in sich trug. Die Welt war 1962 in der so genannten Kubakrise und 20 Jahre später während der »Able Archer«-Krise 1983, als die NATO den Übergang eines konventionellen in einen nuklearen Krieg »übte«, der exterministischen Katastrophe sehr nahe. Auch wenn sie wie Zauberlehrlinge oder »Schlafwandler« handeln, sind die Menschen dabei, den Planeten umzugestalten, so sehr, dass Geologen heute von einem neuen, vom Menschen bestimmten Erdzeitalter, dem Anthropozän, sprechen.

Dessen Beginn kann zwar in der Epoche der industriellen Revolution im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts datiert werden. Das gesamte 19. Jahrhundert ist schon dadurch bestimmt, und daher auch die Vorgeschichte des 1. Weltkriegs. Das Anthropozän erfährt aber in der Phase der so genannten Reglobalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg eine enorme Beschleunigung, die auch Geologen so interpretieren.

Eine neue Zeit bricht an mit so hohem Wirtschaftswachstum über eine so lange Zeitdauer wie noch niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Aber auch ganz neue Konfliktlinien treten hervor, die so auch noch niemals in der Erd- und Menschheitsgeschichte eine globale Bedeutung hatten: Klimakonflikte, Konflikte um Wasser, Kämpfe um mineralische und energetische Ressourcen, Konflikte um Nahrung und um Land. Krieg oder Frieden hängen deutlich vom Umgang der Menschen mit der Natur, mit ihren Ressourcen und ihrer Tragfähigkeit ab. Demgegenüber sind die ereignisgeschichtlichen Intrigen und Querelen eher unerheblich.

Neue Konfliktlinien

Die Konfliktursachen wandeln sich in der »longue duree« und in den Konjunkturen der mittleren Frist, daher auch die Handlungsbedingungen, die Interessen, die Strategien der wichtigen Akteure. In der Epoche des Kolonialismus bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts existierten noch »weiße Flecken auf der Landkarte«. Die kapitalistischen Metropolen konnten auf externe Quellen, auf Naturressourcen und auf billige Arbeitskraft zurückgreifen und die »unberührte Natur« als Senken für alle Abfälle nutzen, die sie in immer größerer Masse emittieren. Auch die »redundant population« (David Ricardo), die überflüssige Bevölkerung, wurde in einen gewaltigen Strom von Emigranten aus Europa in die »große weite Welt« gelenkt, die sie als neue Siedler aufnehmen musste. Die Welt war aber gar nicht so weit wie es schien und daher artete die europäische Emigration in vielen Fällen in der Vertreibung und Unterjochung der indigenen Bevölkerung aus. Manchmal war es Völkermord. Das muss man in Erinnerung behalten, wenn heutzutage Immigranten an den europäischen Frontex-Grenzen in ihre Herkunftsländer zurückexpediert werden.

Die Externalisierung der negativen Effekte der kapitalistischen Entwicklung war nicht nur Begleiterscheinung, sondern Element der Akkumulation von Kapital, eine wesentliche Bedingung der Modernisierung. Es war unvermeidlich, dass daraus Konflikte erwuchsen, die sich in unübersichtlicher Weise auch zu Kriegen zuspitzten. Denn die »Kugelfläche des Planeten Erde ist begrenzt« (Immanuel Kant). Wenn neue Kolonialmächte nicht mehr als Eroberer in die weißen Flecken expandieren können, werden sie zu imperialistischen Konkurrenten und geraten unweigerlich in Konflikt miteinander, zumal sich der Kapitalismus monopolistisch und staatsmonopolistisch verändert und die Technik der Produktiv- und Destruktivkräfte fortentwickelt. Die verschärfte Konkurrenz privaten Kapitals wird nun staatlich unterstützt. Sie wird auch militärisch ausgetragen, in kolonialen Kriegen und in dem großen Weltkrieg im »Zeitalter der Extreme«.

Das ins Zentrum der Analyse gerückt zu haben, ist trotz aller wichtigen Unterschiede der gemeinsame Kern der Leninschen, aber auch der Luxemburgschen Imperialismustheorie. Die linken Sozialdemokraten und Kommunisten, die sich auf diese Theorieansätze stützten, haben immer den Zusammenhang von ökonomisch begründetem Staatsmonopolismus und Imperialismus, Militarismus und Bellizismus, Rassismus und nationalen Phobien hervorgehoben, die die Beziehungen der Völker im Zeitalter des Imperialismus langfristig vergiftet haben. Um dagegen etwas zu unternehmen, muss daher die Systemfrage aufgeworfen werden, die bei ereignisgeschichtlicher Analyse in den Hintergrund verdrängt wird.

Die Weitsicht Immanuel Kants in seiner kleinen Schrift »Zum ewigen Frieden« aus dem Jahre 1795 ist angesichts dieser Gefährdungen bewundernswert. Die Externalisierungstendenzen auf der begrenzten planetaren Kugelfläche sind der Grund für die Erarbeitung von Regeln, wie sich die Menschen »nebeneinander dulden müssen« (Kant). Ohne diese Regeln gehen »das inhospitale Betragen, die Ungerechtigkeit, die die gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit« (Kant). Das imperialistische Zerfleischen, das im Ersten Weltkrieg stattfand, kann also vermieden werden durch Beachtung von Regeln des friedlichen Zusammenlebens. Doch darauf konnten sich die Akteure von 1914 nicht verständigen. Die Regierungen bereiteten den Krieg vor, das je nationale Kapital und seine »Wirtschaftsführer« hofften auf kolonialen Zugewinn, neue Märkte und Anlagesphären, die Friedensbewegungen waren schwach, zumal im Vergleich zu der militaristischen Euphorie und den Horden, die diese verbreiteten. Die Arbeiterbewegung war gespalten und zum »Burgfrieden« bereit, unter dessen Leichentuch die internationale Solidarität begraben wurde.

Das bringt uns sofort zu der Frage, welche Regeln es sein können, deren Befolgung den Frieden bringt und sichert. Nach dem Ersten Weltkrieg waren es die hilflosen und letztlich zum Scheitern verurteilten Versuche, einen Völkerbund zu errichten. Denn zugleich wurde ein Frieden (in Versailles) geschlossen, der als ungerecht empfunden wurde. Die nationalistischen, auf Revanche sinnenden Kräfte und der aufkommende Antisowjetismus, der zum Antikommunismus, der »Grundtorheit des 20. Jahrhunderts« (Thomas Mann) hochgeschaukelt wurde, waren Hindernisse für eine den Frieden fördernde Politik. Auch entstanden neue Staatswesen mit Grenzen, die von den imperialen Siegermächten ohne Ansehung kultureller, ethnischer, religiöser Traditionen gezogen wurden und sehr schnell territoriale Konflikte auslösten, die für den Ausbruch der zweiten großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts mitverantwortlich sind und die bis in die Gegenwart nachwirken: nicht nur in den Konflikten in der Levante und auf der arabischen Halbinsel (zwischen Irak und Kuwait, in Syrien, in Palästina) oder in Zentralasien.

In der Zeit der »Reglobalisierung« nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus diesen Erfahrungen eine Lehre gezogen. Während der imperialen Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg wurden die Grenzen der mächtigen Nationalstaaten durch koloniale und imperiale Eroberung trotz »begrenzter Kugelfläche des Planeten« ausgedehnt. Es musste in der einen oder anderen Form zum Konflikt kommen. Das Projekt der »Reglobalisierung« nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen schafft die Ausdehnung von Märkten und Anlagesphären des Kapitals, von Welthandel und Direktinvestitionen durch den in internationalen Verträgen einvernehmlich geregelten Abbau von Grenzen.

Die Liberalisierung der Märkte und die Deregulierung der Politik sind die Leitlinien internationaler Abkommen. Tarifäre und nicht-tarifäre Beschränkungen des Waren- und Kapitalverkehrs werden im Rahmen von GATT und WTO beseitigt. Denn der Dreiklang von Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung erweitert den »Raum der Freiheit«, von dem seit F.A. von Hayek die neoliberalen Wissenschaftler, Ideologen und Politiker schwärmen. Der US-amerikanische Autor Edward Luttwak hat am »Ende der Geschichte«, also nach dem Ende des real existierenden Sozialismus zu Beginn der 1990er Jahre, stolz verkündet, dass in der Welt des Freihandels die binäre Logik der Freund-Feind-Konstellationen keinen Sinn mehr mache, sondern nur noch die multiple Handlungslogik einer Vielzahl von Konkurrenten. Heißt das, dass der Kantsche Traum vom ewigen Frieden durch die »Reglobalisierung« nach der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts wahr wird, dass bellizistische Feinde sich in friedliche Konkurrenten verwandeln, dass die Konkurrenten nicht nur friedlich sind, sondern den Frieden brauchen, um ihren Geschäften erfolgreich nachgehen zu können? »Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann«, schreibt Kant. Dieses Wort scheint die Taten aller Verantwortlichen zu leiten, so dass sie wie Schlafwandler, aber 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg nicht in den Krieg, sondern in den Frieden taumeln.

Fragile Lernprozesse

Doch hat sich diese freudetrunkene Interpretation aus den schönen Tagen des Globalisierungsschubs nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus als großer historischer Irrtum herausgestellt. Die binäre Logik der Verdrängung der Konkurrenten und der territorialen Eroberung ist keineswegs friedvoll stillgestellt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts macht sich die »longue duree« der vergangenen mehr als 100 Jahre geltend. Die weißen Flecken auf der Landkarte gibt es in Zeiten von Satellitenaufklärung, Drohnen, NATO, NSA und Geo-Engineering nicht mehr. Die Ressourcen des Planeten Erde sind weitgehend bekannt und verteilt, nicht nur zwischen Nationalstaaten, sondern auch zwischen global operierenden Konzernen. Besonders wichtig sind im »finanzgetriebenen Kapitalismus« die großen Finanzinvestoren, die größere Vermögen auf die Waage bringen als mittelgroße Staaten. Sie suchen nach Anlagemöglichkeiten, nach solventen Schuldnern überall in der Welt, um den großen Vermögen die versprochene und daher erwartete Rendite zahlen zu können.

Das Wachstum in der Zeit und die territoriale Ausweitung des Kapitalismus sind also das entscheidende Charakteristikum der so genannten Reglobalisierung. Die Zunahme des Ressourcenverbrauchs ist daher unvermeidbar, auch wenn dessen Effizienz steigen sollte. Die Ressourcen müssen den Verbrauchern verfügbar sein. Heute kommt es sicherlich immer noch auf die Herrschaft über die Logistik der Lieferketten, aber auch auf die Konditionen der Finanzierung von Investitionen, auf die Software, auf die Kontraktwährung und die Verlässlichkeit der involvierten politischen Akteure an. Kriege werden daher anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht allein oder hauptsächlich mit Armeen zur territorialen Eroberung geführt, sondern ökonomisch und finanziell, ideologisch, politisch-propagandistisch. Sie sind daher tatsächlich total.

Der Erste Weltkrieg ist von den schlammigen und stinkenden Schützengräben gekennzeichnet, in denen die Soldaten in ihren eigenen Fäkalien umgekommen sind, von den Materialschlachten und dem Massensterben. Aber auch vor 100 Jahren wurden Wirtschaftssanktionen genutzt, Lieferungen von Rohstoffen und Nahrungsmitteln unterbunden und der Hunger als Waffe eingesetzt. Der Wirtschaftskrieg ist keine ganz neue Erfindung, er gehörte zu den Strategien in den napoleonischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und er wurde auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführt.

Wieder 100 Jahre später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Feind nicht mehr unbedingt ein anderer Staat, sondern der »internationale Terrorismus«, der die Energie- und Nahrungsmittelversorgung gefährdet, Verkehrsverbindungen unterbricht, die digitale Kommunikation stört und die Herrschaft der »zivilisierten Welt«, so definieren sich nicht selten korrupte Eliten, in Frage stellt. Dieser Feind wird nicht von Soldaten, sondern von privatwirtschaftlich engagierten Söldnern und mit Drohnen bekämpft, die nach Tötungslisten, die der oberste Kriegsherr, der Präsident der USA, höchstpersönlich zusammengestellt und abgehakt hat, und gegen nicht-staatliche Ziele in Pakistan, Somalia oder dem Jemen und andere Länder gefeuert werden. Auch die »neuen« Kriege haben die Zerstörung von Staaten zur Folge, wie der »Index of Failed States« offenbart. Danach sind nur wenige Staaten in der Welt »stabil«, die Mehrheit befindet sich in einem »alarmierenden Zustand« der Instabilität oder des Staatsversagens.

Vor allem aber ist die Kriegführung wie immer in der modernen Geschichte auch ökonomisch und daher bedingt durch die ökonomische Entwicklung. In Zeiten der Dominanz der Finanzmärkte sind diese in die Strategien der Kriegsparteien einbezogen. Blockaden und Embargos werden immer noch als Waffen genutzt, wie jüngst gegen Russland, das mit Wirtschaftssanktionen im Ukraine-Konflikt geplagt wird. Deren Wirkung ist, wie auch die Embargo-Politik in den Kriegen des 20. Jahrhunderts zeigt, in eng gekoppelten, komplexen Systemen nicht vorhersehbar. Sie kann daher außer Kontrolle geraten. Das dürfte bei der Einbeziehung von Finanzmarktakteuren in die Kriegführung nicht anders sein.

Wer hätte vor drei oder vier Jahrzehnten geglaubt, dass eine private Rating Agency wie Standard and Poors es wagen würde, als Kriegsmittel im Kalten Krieg das Rating einzusetzen und die Kreditwürdigkeit der »großen Sowjetunion« abzuwerten, um sie in finanzielle Schwierigkeiten zu bringen und politisch zu schwächen? Heute wird infolge des Downgrading Russlands durch die Rating Agency, was sicher in Abstimmung mit der US-Regierung geschehen ist, die Finanzierung auf globalen Finanzmärkten verteuert. Die Abwertung der Währung folgt der einsetzenden Kapitalflucht und zur Abwehr eine Politik der Austerity. Die finanzielle Stabilität und der soziale und politische Frieden sind gefährdet. Die Waffe der Rating Agency wirkt freilich nicht nur gegen Russland, sie wirkt sich wegen des Systemzusammenhangs eng gekoppelter Teilsysteme im finanzgetriebenen Kapitalismus überall in Europa und darüber hinaus aus. Auch auf die Ukraine, die eigentlich durch diese Maßnahme unterstützt werden sollte.

100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg handeln die Akteure so irrational wie immer. Auch in der »longue duree« ist der Fortschritt von Lernprozessen nur mäßig. Der aktuelle Konflikt um die Ukraine ist ein bedrückendes Beispiel für einen Lernprozess mit möglicherweise pathologischem Ausgang. Fehleinschätzungen, Provokationen, selbst zu verantwortende Entscheidungssituationen, die Alternativen nicht zulassen, sowie Abhängigkeiten von unzuverlässigen Bündnispartnern können die Akteure wieder auf die abschüssige Bahn führen, auf der das Hineinschlittern in einen großen Krieg unvermeidlich scheint.

Es scheint aber nur so. Denn Alternativen gibt es heute, so wie es sie auch vor 100 Jahren gab. Damals hätte eine soziale und politische Revolution den Krieg vermeiden können, eine Revolution, die von den Herrschenden unterdrückt wurde, dann aber als gewaltsames Ende der Monarchie in Deutschland, im Osmanischen Reich und in Österreich nach dem Krieg doch stattfand. Nur in Russland war die Revolution auch eine Veränderung des ökonomischen und sozialen Systems. Heute steht eher die ökonomische und ökologische Revolution auf der Tagesordnung: die Entmachtung der globalen Finanzmärkte, deren politische Re- Regulierung, um die entbetteten Märkte wieder in die Gesellschaft einzubetten, und der Übergang zur solaren Gesellschaft, zur Abkehr von den fossilen Energieträgern - um Hobsbawms pessimistischer Prognose von der Möglichkeit der gleichzeitigen Implosion und Explosion eine positive Botschaft entgegenzusetzen.

Elmar Altvater ist Professor i.R. für Politikwissenschaft. Er arbeitet im Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Letzte Buchveröffentlichung: Marx neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie, Hamburg 2012. Der Beitrag basiert auf seinem Referat »Wissenschaft - Kapitalismus - Krieg« anlässlich einer Antikriegskonferenz im Mai 2014 in Potsdam »100 Jahre Erster Weltkrieg - Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden«, organisiert vom »Netzwerk 1914-2014«, in dem u.a. mitarbeiten: IALANA/ IPPNW/DFG-VK/ver.di/Pax Christi/Kooperation für den Frieden/Aktionsgemeinschaft Ohne Rüstung Leben/Naturfreunde.

Quelle: Sozialismus 9/2014, www.sozialismus.de


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