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„Kernproblem“ Irland: Eine historische Chance

  • Dienstag, 17. Juni 2008 @ 09:55
Europa Die EU-Granden stempeln den Inselstaat zum Sündenbock - Kommentar der anderen von Christian Felber. Nach dem irischen „No“ zum Reformvertrag gefallen sich die EU-Granden in neoautoritären Posen und stempeln den Inselstaat zum Sündenbock. - Eine gleichermaßen symptomatische wie kurzsichtige Reaktion.

Mit Irland hat - nach Frankreich und Holland - ein dritter Souverän das neue EU-Vertragswerk abgelehnt. Statt daraus jedoch die demokratische Konsequenz zu ziehen, verfallen einige EU-Granden in neoautoritäre Posen. Irland wird zum Sündenbock gemacht und vorsorglich aus einem angedachten „Kerneuropa“ ausgeschlossen. Mindesterfordernis der Logik: Frankreich und Holland müssten mitausgeschlossen werden, weil die Souveräne den zu 96 Prozent gleichen Vertragstext ablehnten. Hätten weitere Referenden stattgefunden, wer weiß, was vom „Kern“ übriggeblieben wäre.

Am Beispiel des Durchboxens des EU-Vertrages lässt sich der Zustand der Demokratie in der EU studieren: Sie wird immer mehr vom Zweck zum Mittel. Sowohl das französische als auch das holländische Referendum wurden von Vertragsbefürwortern nur deshalb organisiert, weil sie sich eines Ja sicher waren. Es ging ihnen nicht um den Willen des Souveräns, sondern um die Bestätigung der eigenen Position.

Ähnlichen Geistes sind nun die EU-Regierungen, wenn sie 486 Millionen EU-Bürger/innen (99 Prozent) von der Abstimmung über den Lissabon-Vertrag ausschließen. Es geht ihnen nicht um die prinzipielle Überzeugung, dass ein Souverän nicht das letzte Wort haben dürfe, sondern um ihre Angst, ihre nicht mehrheitsfähigen Interessen nicht durchsetzen zu können. Gegen Referenden an sich haben die wenigsten Regierungen etwas: Seit 1990 haben in Europa 290 Volksabstimmungen stattgefunden. Auch die österreichische Regierung, die sich als leidenschaftlicher Fan der „repräsentativen Demokratie“ ausgibt, fordert ganz selbstverständlich ein Referendum über den Türkei-Beitritt.

In jedem der Fälle wird und würde das demokratische Mittel Referendum missbraucht: Es dient nicht dem Prinzip Souveränität, sondern dem jeweiligen Interesse der Regierungen, sich mal feiern zu lassen, mal über den Willen des Souveräns hinwegzusetzen und mal die Finger nicht schmutzig zu machen und die Drecksarbeit dem Volk zu überlassen. So wird Schritt für Schritt am Totalschaden der Demokratie gebastelt.

Umso peinlicher, als „mehr Demokratie“ und „Bürgernähe“ zu den angeblichen Vorzügen des Lissabonvertrages zählen und die Menschen über die Zementierung des neoliberalen Marktprojekts und die dafür leider nötige Aufrüstung hinwegtrösten sollen. Doch der „größte Demokratieschub seit 20 Jahren“ (Othmar Karas) bringt auf EU-Ebene nicht einmal den Mindeststandard der Gewaltenteilung: Die Exekutiven der Mitgliedstaaten, die Regierungen, bleiben der mächtigste Gesetzgeber. Das Parlament bleibt schwächstes Organ, obwohl es als einziges direkt demokratisch legitimiert ist: Es dürfte in relevanten Politikfeldern (Außen- und Sicherheitspolitik, Euratom, Grundzüge der Wirtschaftspolitik) auch in Zukunft nicht mitentscheiden und in keinem Bereich Gesetze initiieren. Es dürfte die „Regierungsmitglieder“ weder vorschlagen noch einzeln abwählen. Das ist vielen Menschen zu wenig. Sie wollen spürbare Demokratie, keine Krümel zum Abspeisen.

Die fehlende Gewaltenteilung untergräbt auch in den Mitgliedsstaaten die Demokratie. Laut deutschem Bundesjustizministerium waren 1998-2004 satte 86 Prozent der Rechtsakte, die durch den Bundestag gingen, EU-Recht. Das deutsche Parlament vollzieht mehrheitlich nur noch, was die Regierung über den EU-Rat beschlossen hat, zum Teil ohne EU-Parlament. Ex-Bundespräsident Roman Herzog fragt in der Welt, ob man sein Land „überhaupt noch uneingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnen kann“.

Der Reformvertrag würde die Kompetenzen Brüssels noch vergrößern. In den Bereichen der „geteilten Zuständigkeit“ erhält Brüssel gesetzgeberischen Vorrang: Die Mitgliedstaaten dürfen nur dann tätig werden, wenn Brüssel untätig bleibt. Wo bleibt das Subsidiaritätsprinzip? Mit der „Flexibilitätsklausel“ und dem „vereinfachten Änderungsverfahren“ kann Brüssel zusätzliche Kompetenzen an sich ziehen.

Die 17. Erklärung des Vertrages von Lissabon bestimmt auf Seite 436 (!), dass den EU-Verträgen „keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können“, also auch nicht Verfassungsrecht. Angesichts dieser Tatsachen verkommt das Argument der Regierungen, die EU sei kein Staat, der Vertrag keine Verfassung und die Bürger der Nationalstaaten nicht zu befragen, weil deren Souveränität im Kern unangetastet bleibe, zur Augenauswischerei.

Das Ausschalten der Souveräne war ja selbst dem EU-Konvent zu heiß, er wollte mehrheitlich, dass das Ergebnis in allen Mitgliedsländern abgestimmt werde. Doch der Wille des Konvents - Lehrstück EU-Demokratie - zählte nicht, das letzte Wort hatte das Präsidium (Regierungsvertreter), das die Referenden strich. Jean-Claude Juncker sagte wörtlich, er habe „noch keine dunklere Dunkelkammer gesehen als den Konvent“.

Die EU-Krise ist eine Krise zwischen den Eliten und der Bevölkerung. Die Regierungen werden diese Krise aus eigener Kraft nicht mehr lösen. Jeder Schritt ohne Bevölkerung ist ein Tritt tiefer in den Fettnapf der Bürgerferne. Europa muss von Grund auf neu gebaut werden - demokratisch. Ein erster Schritt wäre die Direktwahl eines Konvents, der einen neuen Vertrag ausarbeitet. Dieser muss dann von allen Souveränen angenommen werden.

Wenn die Bevölkerung in den Bau des europäischen Hauses eingebunden wird und mitbestimmen darf, wird ihre Identifikation mit der EU nachhaltig steigen. Auch weil ein direkt gewählter - und exklusiv für dieses Projekt rechenschaftspflichtiger Konvent - einen ganz anderen Vertrag schreiben wird als heute: Welcher direkt gewählte Konvent (der keiner Regierung gehorchen muss) wird gegen echte Gewaltenteilung sein? Gegen ein Parlament mit Gesetzesinitiativrecht? Und welcher Souverän gegen europäische Bürgerbegehren, die zu zwingenden Volksabstimmungen führen? Gegen soziale Konvergenzkriterien, Mindestlöhne und die Begrenzung der Ungleichheiten? Gegen faire Pflichten für Konzerne? Die „Irland-Krise“ ist eine historische Chance für die EU. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.6.2008)

Christian Felber, Buchautor und Attac-Mitbegründer, hat zuletzt bei Deuticke den Band „Neue Werte für die Wirtschaft“ publiziert und am Buchprojekt „Europa am Scheideweg. Kritik am EU-Reformvertrag“ mitgearbeitet (VSA, 2008)

Quelle: Der Standard, 17.6.2008, http://derstandard.at/?url=/?id=3378755

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