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Das Mysterium ist unaussprechbar

  • Sonntag, 1. Januar 2006 @ 16:35
Kultur Zu Eugenie Kains „Atemnot“. Besprechung von Margit Schreiner

Etwas Grobes, Klobiges ist an dem Buch. Oder an den Figuren des Buches. Oder an der Stadt, die in dem Buch beschrieben wird.

„Stadt an der Donau mit 4 Buchstaben… Linz. Industrie. Elektronische Kunst. Zwerge. Therese nahm den Stadtplan zur Hand, Großraum Linz, die aktuelle Ausgabe. Eine Stadt mit vier Buchstaben und sieben Hügeln. Kein Palatin weit und breit, kein Monte Ghiro, sondern Pfennigberg, Gründberg, Pöstlingberg, Römerberg, Schlossberg, Froschberg, Freinberg. Behäbige Namen, dumpf ihr Klang wie die Farben und Geräusche im Nebel, wenn die Sonne und die letzten Stockwerke der Hochhäuser tagelang verschwanden und das zähe Licht den Hall der Schritte dämpfte.“

Etwas Feines, Feinziseliertes ist an dem Buch. Oder an den Figuren des Buches. Oder an der Stadt, die in dem Buch beschrieben wird. „Licht trifft die Böschung einer Streuobstwiese an der Donau, zwischen Gräsern und Schafgarben eine zerbrechliche Pflanze mit porzellanweißen Blüten und darübergebeugt ein glückliches Kind.“

Warum Geht´s in dem Buch? Es geht um Missbrauch. Vor allem um den Missbrauch eines kleinen Mädchens. Aber auch um den Missbrauch einer ganzen Gesellschaftsschicht (des sogenannten Proletariats, das in den Hochhäusern am „Harter Plateau“ am Stadtrand von Linz lebt). Es geht auch um Landschaftsmissbrauch (Zerstörung der Landschaft um Linz durch Industrie). Missbrauch einer Stadt (alles wird begradigt, ausgebaggert, niedergewalzt, eingeebnet. Die Stadt wird zur „Sackgassenstadt“). Geschichtsmissbrauch (davon spricht der „Geschichtenerzähler“). Missbrauch eines Körpers durch Krankheit (Atemnot). Ein bisschen viel für einen Roman von 148 Seiten? Ja, ein bisschen viel.

Andrerseits: Wir haben es hier mit keinem Roman zu tun, auch wenn`s auf dem Titelblatt steht. Abgesehen davon, dass die Gattungsbezeichnung Roman heute ausgelutscht scheint - vielleicht sollten wir sie endlich im 19. und 20. Jahrhundert zurücklassen -, handelt es sich um eine Art Traumbuch oder ein Albtraumbuch. Ein Buch jedenfalls „…von den Traumpfaden der Erinnerung, die blieb und ein Netz aus Wünschen und Ängsten über die Stadt legte.“ Es geht mehr um das Netz als um die konkrete Erinnerung. Und das hat seinen Grund im Missbrauchsthema.

Literatur ist immer Verrat an den Lebenden. Der Schriftsteller ist ein Verräter. Was muss unbedingt ausgesprochen und welches Geheimnis aber gewahrt bleiben? Das sind die Fragen bei jedem Buch, das einer schreibt.

Missbrauch ist ein heikles Thema. So wie Folter. Vor allem für die Opfer. Bei Folter und Missbrauch gibt es nur für die Täter Entlastung durch die Sprache. Für die Opfer wiederholt sich die Demütigung durch das Aussprechen. Absurder-, aber logischerweise kann das Opfer sich nur abfinden mit seiner Opferrolle (es bleibt das Opfer für immer), der Täter aber versuchen, selbst zu verstehen, warum er was gemacht hat. Jeder Film über Auschwitz, der die ausgemergelten Verzweifelten und die seelenlosen Leichenberge zeigt, demütigt gleichzeitig noch einmal die Opfer. Das hat mich immer am meisten geschmerzt beim Betrachten dieser Filme.

Der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho wurde dreimal in Gefängnissen der brasilianischen Militärdiktatur gefoltert. Eines Tages wurden seine Frau und er von einer paramilitärischen Gruppe entführt und erst eine Woche später wieder entlassen. Von dieser einen Woche der Folter erzählt er in seinem Gespräch mit Juan Arias „Bekenntnisse eines Suchenden“ nur eine einzige Episode. Irgendwann war er mit einer Kapuze über dem Kopf auf die Toilette geführt worden. In der nebenan befand sich seine Frau. Sie erkannte seine Stimme und sagte: Wenn du Paulo bist, sprich mit mir. Er antwortet nicht. Er kann nicht. Er hat Angst. Er ist verzweifelt, er schämt sich, aber er kann nicht. Sie wird ihn später, nachdem sie entlassen sind, bitten, nie mehr ihren Namen auszusprechen. Und Coelho hält sich daran. Jedes Mal, wenn er von ihr spricht, sagt er „meine Frau ohne Namen“.

Es ist, gerade durch das Verschweigen der Foltermethoden, eine der eindringlichsten Geschichten über die Folter, die ich kenne. Es gibt für bestimmte Situationen nur das Verschweigen oder zumindest das Aussparen. Nur durch Umwege, gewissermaßen „symbolhafte Details“ kann das Unsagbare fruchtbar gemacht werden.

Eugenie Kains Buch „Atemnot“ ist voll von solchen Umwegen. Deshalb die vielen Rätsel, die vielen verschiedenen, oft nur angedeuteten Figuren und Handlungen. Namen tauchen zu spät auf oder sind Kunstnamen wie Bora und Schirokko, wie Risa und Sita oder Rita und Sira. Wer ist hier eigentlich wer? Marie und Therese, stellen wir erst nach siebenundsiebzig Seiten mit Sicherheit fest, sind ein und dieselbe Person. Wer ist Max Paha, ist er identisch mit Franz Fürst? Beide spielen Gitarre, sind beide Verzweifelte? Sind Desiree, das missbrauchte Mädchen, das gleich zu Beginn des Buches aus dem 20. Stockwerk eines Hochhauses des proletarischen „Harter Plateaus“ stürzt, und Bora, die sich am Ende des Buches ebendort hinunterstürzen wird, nicht im Grunde ein und dieselbe Person? Das würde aber bedeuten, dass auch Bora ein Opfer ist, ein missbrauchtes Kind wie Desiree, obwohl wir von ihrem Vater, dem Gamsjäger, im Gegensatz zu Desirees Vater, eigentlich nur Positives erfahren. Er ist eine Symbolfigur, ein „Jäger“, ein „Spurensucher“, ein „Indianer“, ein Freiheitsliebender. Aber was sonst hätte er in dieser Geschichte des Missbrauchs zu suchen? Sicher, er ist selbst ein gesellschaftlich Missbrauchter. Sind alle Opfer ein Opfer? Und nur die Täter verschieden? Wo aber sind die Täter? Wie unterscheiden sie sich von den Opfern? Unterscheiden sie sich überhaupt von ihnen? Wer ist Schirokko? Ein „Geschichtenerzähler“ kommt nur einmal für eine halbe Seite vor, dann nicht mehr, der „Gamsjäger“ nur für ein paar Seiten.

So vieles ist „dunkel“ an diesem Buch. Zum Beispiel die „Cuts“. Da laufen offenbar zwei Menschen um ihr Leben. Wir wissen nicht wer, und wir wissen nicht warum. „Du läufst vor mir über den frostharten Boden. Die Au ist durchscheinend geworden. Die Fußsohlen brennen. Vom Ziel sind wir noch weit entfernt. Abkürzungen gelten nicht.“ Oder:

„Du bleibst zurück. Ich halte das Tempo. Die Trennung ist ein Riß durch mürbes Gewebe. Die Einsamkeit kommt nicht unerwartet. Schritt für Schritt arbeite ich mich vor. Atemzug für Atemzug. Heraus aus der Stadt.“

Ich mag keine „dunklen Stellen“ in Büchern. Trotzdem erkenne ich sie wieder. Ich mag auch keine Symbolpersonen. Wie aber eine Geschichte erzählen, bei der fast alles Konkrete bereits Verrat an den Personen wäre? Marie Therese, alter ego der Schriftstellerin, die die Geschichte Desirees festhalten will, hat nicht nur mit dem eigenen Unvermögen zu kämpfen, „es wird nicht, sagte Therese zu Marie. Es sperrt sich. Die Geschichte von Desiree wird nicht erzählt werden, nicht von mir. Ich kann nicht“, sondern auch gegen das Schweigen der anderen, und zwar nicht nur gegen das verdeckende Schweigen der Täter, nämlich des Vaters und der Mutter von Desiree, sondern auch gegen das Schweigen der Helfer, wie des Sozialarbeiters Richard Kogler, der sich auf die Schweigepflicht beruft und schweigt, weil er Desiree liebt, weil er ihre Demütigung nicht sprechend wiederholen will und wahrscheinlich auch, weil er einmal mit ihr in einer erotischen Situation war, die sie erschreckt hat.

Es ist wenig, was wir über Desiree erfahren: Sie begeht Selbstmord durch einen Sprung aus dem 20. Stockwerk eines Hochhauses. Vor ihrem Tod hat sie als Kellnerin oder als Gehilfin in einer Fleischerei oder in einem Supermarkt gearbeitet, jedenfalls hat sie während der „Wildwochen“ totes Wild in einen Keller geschleppt.

Als Kleinkind wurde sie von ihrem Vater missbraucht. Sie kam nach der Aufdeckung durch eine Nachbarin (wieder eine Symbolfigur, „die Vogelfrau“), die sich nur zögernd erinnert an die blutigen Windeln und daran, dass Desiree gerne Kirschen aß, in ein Heim. Man fand Tagebuchnotizen mit Träumen Desirees von einem „normalen Leben“ und solche mit Träumen von der Auslöschung. Außerdem erfahren wir nur von einer Art Liebesszene mit dem Sozialarbeiter, die eine allwissende Erzählerin (nicht Marie Therese) erzählt. Und von Hoch- und Niedrigwasser der Donau, das möglicherweise „das Kind“ Desiree einmal so wahrgenommen hat. (Wiesen mit Streuobst, Blumen, Alleebäume etc.)

Ich hätte mich an das Äußere gehalten. Aber die Schriftstellerin Eugenie Kain misstraut dem Äußeren. Sie will ins Innerste vordringen, sie tastet an das Mysterium. Das Mysterium aber ist unaussprechbar. Das liegt in seinem Wesen. Deshalb ist das Buch, wie es ist. Ein Buch des Verschweigens, im Grunde ein privates Buch. Eines, das uns nichts angeht. Was uns aber etwas angeht, das sind wir selbst. „Atemnot“ rührt an unsere eigenen dunklen Flecken, unser Verschwiegenes, unser Keuchen, an unseren eigenen Kampf, an unser eigenes Ersticken.

In diesem Sinne erinnert mich „Atemnot“ an die Bücher von Ernst Jünger. Besonders an Sequenzen aus den Tagebüchern und an Auf den Marmorklippen. Auch er rührt ans Mysterium, läuft immer Gefahr beliebig zu werden, lässt fremde bunte Traumbilder vor uns entstehen, auch seine Bücher oder Menschen oder Städte haben dieses seltsam Grobe, Klobige wie aus Stein Gehauene und gleichzeitig Feine und Feinziselierte. Auch seine Figuren sind Symbolfiguren, seine Landschaften und Geschichten sind stets vom Verschwinden bedroht und auch er rührt und rüttelt an unseren dunklen Flecken.

Kain Eugenie, Atemnot: Erzählung, Resistenz Verlag, 2001, 148 Seiten, ISBN 3-85285-065-7, kt., 11 Euro

Quelle: www.rezensionen-online.at

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