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Franz Kain: Zehn Ratschläge für den Zeitgeschichtsforscher

  • Montag, 10. Januar 2022 @ 08:00
Geschichte
1. Gehe stets davon aus, daß 50 Jahre nach den bekannten Ereignissen die Geschichte ohnehin neu geschrieben werden muß, und es daher dein Amt ist, alte Einseitigkeiten auszumerzen. Dazu gehören Kriegsschuld Deutschlands, Überbewertung des Widerstandes, die Phantastik der Zahlen und die Verhöhnung des gesunden Volksempfindens in Justiz und Kunst.

2. Sorge für eine exakte Bezeichnung der Dinge, also: NS-Zeit statt Faschismus, nicht Antifaschismus sondern Widerpart der NS-Ordnung. Schreibe Organisationen gelegentlich auch aus, etwa nationalsozialistische Volkswohlfahrt statt NSV, Bund deutscher Mädchen statt des gehässigen BDM, damit auch der lyrische Schmelz alter Zeiten nicht ganz verloren gehe.

3. Da die komplizierten Zusammenhänge ausgewogen dargestellt werden müssen, empfiehlt es sich, häufig den schönen und relativierenden Konjunktiv zu verwenden. Etwa so: es wird berichtet, daß der Anschluß an Deutschland auch von Verhaftungen begleitet gewesen sei. Auch das schöne Wort sogenannt tut seine sanfte Wirkung. Der eine ist ein glühender Patriot gewesen, der andere (eh schon wissen, welcher) ein sogenannter Patriot. Bei den Emigranten: die NS-Ordnung habe sie bedrückt. Und sie wären dadurch zur Ansicht gelangt, daß es für sie besser sei, außer Landes zu gehen.

4. Bei der Darstellung von Ereignissen sollte tunlich vermieden werden, jene zu befragen, die dabei gewesen sind, ihre Bemerkungen sind meist emotional gefärbt, ihr wirklicher Überblick war historisch bedeutungslos.

5. Diese Vorgangsweise gilt insbesondere auch für die Darstellung von Vorgängen, die mit der KPÖ zusammenhängen. Wenig sinnvoll wären da Aussagen von Kommunisten, die heute noch solche sind, ihre Meinung kennt man ja ohnehin. Ergiebiger sind Auskünfte von gewesenen Kommunisten, sie bürgen für klaren Blick über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Kommunismus. Nur wer sich getrennt hat, ist auch zitierbar und aussagefähig.

6. Es empfiehlt sich, gewisse Ereignisse beim wirklichen Namen zu nennen: Der Ausbruchsversuch von 500 Sowjetoffizieren aus dem Konzentrationslager Mauthausen etwa war schlicht und einfach eine Häftlingsrevolte, wie man sie von Sing Sing bis zu Cayenne schon kennt. Eine Hinrichtung ist der Vollzug eines Urteils. Ist ein Häftling in einem Konzentrationslager ums Leben gekommen, so ist er in der Gemeinde, in der sich das Lager befand, verstorben, also etwa in Ebensee, nicht im Lager Ebensee.

Sollten die Ereignisse vor 50 Jahren behandelt werden müssen, so kann das Wort Befreiung, natürlich wertfrei, ohne weiteres verwendet werden, allerdings mit zum Zusatz, daß mit diesem Ereignis auch der Zusammenbruch der Versorgung zusammenfiel, die vorher noch einigermaßen in Ordnung war, man denke nur an die vollen Lager, die erst in der vielstrapazierten „Freiheit“ geplündert wurden.

8. Die Wichtigkeit der mündlichen Befragung, der sogenannten „Oral History“, braucht keineswegs schlechterdings geleugnet werden. Aber ein Dokument kann sie natürlich nicht ersetzen, die befragten Herrschaften neigen nämlich zum Plaudern. Ist jemand noch ums Leben gekommen, als die SS keine Totenbücher mehr geführt oder führen hat lassen, so ist er kein NS-Opfer, weil die amtliche Todesnachricht fehlt. Unfälle genug gibt es ja in so unruhigen Zeiten.

9. Der Zeitgeschichtler soll nicht den fatalen Ehrgeiz haben, das Rad immer wieder neu zu erfinden. All- und altbekannte Tatsachen braucht man nicht noch einmal ergründen: Daß Karl Marx längst und endgültig widerlegt ist, daß Kommunisten immer nur fremden Interessen gedient haben, daß der Nationalsozialismus auch viele gute Seiten hatte, bei Anerkennung auch seiner bedenklichen.

10. Und schließlich: da mag der Zeitgeschichtsforscher noch so viel Ameisenfleiß beim Sammeln von Einzelheiten entwickeln, er darf dabei keineswegs die alte Weisheit aus dem Auge verlieren, daß viel Wissen Kopfweh macht. Um wirklich zu einer allgemein gültigen Darstellung durchzubrechen, muß er das meiste wieder vergessen, denn nur auf diese Weise sind große Würfe einer neuen Betrachtungsweise und bahnbrechende Erkenntnisse möglich.

Und nun, gleichsam als Fußnoten, noch einige Beispiele zur Abmahnung und Nachahmung:

Im Katalog der Gemäldegalerie des Prämonstratenser Stiftes Schlägl im oberen Mühlviertel, Ausgabe 1987, wird auf Seite 53 der Tatsache Erwähnung getan, daß 1945 „die Russensoldateska über Schlägl hereingebrochen“ ist. Solche forschen Ausdrücke sollten in einem Jahr wie diesem, wo der Herr Bundespräsident das Jahr 1945 ein Jahr der Befreiung genannt hat, tunlich wohl besser nicht verwendet werden.

Weitaus geschmeidiger und geradezu vorbildlich ist da die Haltung der zwei höchsten Linzer Kulturbeamten, nämlich des Leiters des Stadtarchivs Dr. Fritz Mayrhofer und des Direktors des Stadtmuseums „Nordico“, Dr. Willibald Katzinger. Da wurde eine große Ausstellung „Prinzip Hoffnung“ mit der Behandlung der Zeit von 1945-1955 veranstaltet und dazu ein reichbebilderter Katalog erstellt. Auf Seite 388 werden auch knappe Lebensläufe der Autoren mitgeteilt. Für solche Kurzbiographien stehen im allgemeinen nur acht oder neun Zeilen zur Verfügung. In diesen wenigen Zeilen muß der Autor das mitteilen, was ihm am wichtigsten erscheint.

Dr. Katzinger verwendet von acht Zeilen deren vier für die folgende Mitteilung: „als Kleinkind wurde er zu absolutem Mißtrauen gegen die russischen Besatzungssoldaten erzogen, die es unbedingt. zu meiden galt.“

Und Dr. Mayrhofer teilt in drei von insgesamt acht Zeilen folgendes mit: „mußte (1945) im Alter von einem Jahr mit seinen Eltern die Wohnung am Bindermichl verlassen, in die jüdische DPs Aufnahme fanden“.

Das ist Objektivität mit Hintergrund und gut durchdachte pädagogische Einfühlung, mit dem begrüßenswerten Ergebnis, daß sich jede und jeder sofort auskennt. Solche gediegenen Beispiele bringen, in Variationen natürlich, in die Zeitgeschichtsforschung wieder den frischen Wind redlicher und unvoreingenommener Wissenschaft.

Ansprache von Franz Kain im Stollen Ebensee am 10. Dezember 1995
Quelle: Manuskript, Broschüre „Schriftsteller, Journalist, Politiker – Franz Kain (1922-1997)“, KPÖ-Oberösterreich, 2002, Neuauflage 2007

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