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1945: Maria-Lichtmess-Nacht

  • Sonntag, 2. Februar 2020 @ 08:00
Geschichte In der Nacht vom 1. auf 2. Februar 1945 brachen rund 500 sowjetische Gefangene aus dem Konzentrationslager Mauthausen aus, wo sie - in der Mehrzahl Offiziere der Roten Armee - der sichere Tod erwartete. SS und NSDAP organisierten mit Hilfe der Hitlerjugend und der Feuerwehren sowie großer Teile der örtlichen Bevölkerung der Umlandgemeinden eine Verfolgungsaktion, die unter der zynischen Bezeichnung „Mühlviertler Hasenjagd“ berüchtigt wurde.

Von den rund 500 ausgebrochenen Häftlingen kamen nach unvollständigen Unterlagen nur 17 mit dem Leben davon, einige von ihnen durch tapfere Hilfe von österreichischen Familien. Berühmt geworden ist die Tat der Bauernfamilie Langthaler in Schwertberg, die zwei sowjetische Offiziere aufgenommen und bis zur Befreiung verborgen gehalten und für sie gesorgt hat. Die Familie Langthaler hat für die Rettung dieser Flüchtlinge das eigene Leben eingesetzt, denn im Falle der Entdeckung wären wohl auch die Helfer nicht mit dem Leben davongekommen.

Einer der wenigen überlebenden Rotarmisten der „Mühlviertler Hasenjagd“ trifft bei der Befreiungsfeier 2002 Frau Hackl aus der Familie Langthaler, die ihn und seinen Genossen nach der Flucht aus dem KZ im Februar 1945 vor den Nazischergen versteckt hatte. Der Schriftsteller und kommunistische Journalist und Politiker, Franz Kain, hat die Geschehnisse im Haus Langthaler literarisch festgehalten.

Franz Kain: Maria-Lichtmess-Nacht

Ich frage euch, was soll man anderes tun, als einer solchen Bitte nachgeben, wenn da einer plötzlich vor dir steht und schaut dich an, mit Augen, die aus einer großen Ferne kommen? Man kann nicht anders, auch wenn man weiß, was da gespielt wird, oder gerade deswegen, weil man den ganzen Tag schon die Schüsse und Schreie gehört hat an diesem Rand der Vernichtung.

Da bin ich in einer Februarnacht 1945, genau zu Maria-Lichtmess, noch allein in der Küche gewesen. Der Mann ist schon früh schlafen gegangen, er war von der Arbeit im Steinbruch müde. Diese Arbeit im Bruch aber brauchen wir, denn von einigen Joch mageren Wiesen kann eine große Familie nicht leben. Von den sieben Kindern waren zwei zu Hause, aber sie waren niedergedrückt und ganz zerschlagen von der wilden Jagd, die um das Haus getobt hat schon viele Stunden. Fünf Söhne sind im Krieg gewesen.

Ich kratz also noch am Herd herum in einer Pfanne, und wie ich von meinem Geschirr aufschau, steht wie aus der Erde gewachsen plötzlich ein Mann in der Tür. Er hat eine zerrissene Decke umgehängt, um die Füße hat er Fetzen gewickelt, und er zitterte vor Kälte.

Er schaut mich an und beginnt langsam zu reden. Er zeigt auf sich und sagt: „Ukraine“. Dann zeigt er hinter sich und sagt: „Linz“. Dann deutet er wieder auf sich, zeigt dann in die Richtung über den Wald hin und sagt abermals: „Ukraine“. Ich reim mir also zusammen, dass er aus der Ukraine nach Linz gekommen ist und jetzt wieder in die Ukraine gehen will. Dann sagt er noch einen Satz, und den muss er vorher eingelernt haben: „Ich bitte um Essen.“ Dabei sind seine Blicke starr auf den Herd gerichtet.

Ich bin ganz gebannt von diesem Blick und geb ihm die Schüssel mit einem Rest Säuersuppe und einen Teller Erdäpfel dazu. Wie er die Schüssel und den Teller in den Händen hat, will er sich bedanken, aber er hat keine Hand frei und kann nur nicken. Wir stehen ganz nahe beieinander, und dabei berühr ich seinen Arm. Ich spür, dass er hart wie Holz ist und nur aus Knochen besteht. Er stellt schließlich Schüssel und Teller übereinander und hebt zwei Finger empor, bevor er sich zum Heustock hin entfernt. Ich schau ihm nach und weiß jetzt, dass ich soeben zwei Ausbrecher aus dem Lager Mauthausen einquartiert habe.

Natürlich hab ich gleich gewusst, dass der nicht von Linz kommt, als er plötzlich in der Tür steht. Ich habe seine Spur leicht erraten. Noch in der vorigen Nacht ist es ausgetrommelt worden: aus dem Lager Mauthausen ist eine große Gruppe russischer Gefangener ausgebrochen, man hat von 500 Mann gesprochen. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, beim Einfangen dieser Ausbrecher mitzuhelfen, bei denen es sich um ganz gefährliche Leute handeln soll, denen alles zuzutrauen ist: Stehlen, Rauben, Häuseranzünden. Leute, behandelt sie danach! Und alle haben sich beteiligt, an dieser „Mühlviertler Hasenjagd“, wie sie die Verfolgung genannt haben: Der Volkssturm, die Hitlerjugend, die Feuerwehr. Vom Lager selbst haben kleine Trupps von SS-Leuten mit großen Hunden an dieser Jagd teilgenommen.

Am gleichen Tag, an dem die beiden Russen bei uns schon im Heu gewesen sein mussten, wurden hinter dem Haus eines Nachbarn drei Flüchtlinge aufgegriffen. Einer wurde erschlagen, einer erschossen und einer gehängt, gleich an dem Apfelbaum drüben, den man von meinem Fenster aus sieht. Mein Mann hat, als er von dem Ausbruch erfahren hat, gesagt: „Weib, mach die Tür nicht auf heute, und geht mir nicht hinaus an diesem Unglückstag. Mit dieser schlimmen Geschichte wollen wir nichts zu tun haben. Nicht so und nicht so.“

Später hat man erfahren, dass die Russen aus der großen Seuchenbaracke ausgebrochen sind, die neben dem Zaun gestanden ist. Sie haben gesehen, dass von den Gruppen, die ständig weggebracht wurden, keiner mehr zurückkommt, und sie wussten, dass sie langsam alle an die Reihe kommen würden. Sie haben Decken über den Zaun geworfen und Bretter darüber, wie bei einer schmalen Brücke.

Wir sind in der Luftlinie nur vier Kilometer vom Lager entfernt. Wenn man zum Waldrand hinaufgeht, sieht man zu den Baracken hinüber, die auf einem hohen Hügel über der Donau liegen. Ich bin eine junge Bäuerin gewesen, als in der Gegend auch ein Lager gewesen ist. Damals, vor dreißig Jahren, waren es kriegsgefangene Serben. An Typhus sind Hunderte gestorben, in mehreren Epidemien. Damals wurde auch öffentlich darüber gesprochen auf dem Marktplatz und in der Kirche. Als dann wieder ein Lager errichtet wurde, war ich schon eine alte Frau. Aber jetzt hört man nur munkeln, was dort alles vor sich geht. Und die Drohung hört man: sei ruhig, sonst kommst du dorthin. Von dem Hügel geht der Schrecken aus. Manchmal hat man Feuer aus einem Schornstein fahren gesehen, wenn sie die Leichen verbrannt haben, und ein beißender Geruch hat sich über die Wälder gezogen, tage- und nächtelang.

Jetzt ist die Hetzjagd losgebrochen, und tagelang hat man die Schüsse gehört. Wäldchen wurden um -stellt und jede Hütte durchstöbert. Von den 500 Ausgebrochenen sind nur siebzehn durchgekommen.

Einen ganzen Tag lang hab ich das schreckliche Geheimnis bei mir bewahrt, das mich beschwert hat wie ein gewaltiger Stein. Wie aber dann mein Mann aus dem Steinbruch nach Hause gekommen ist, konnte ich's nicht mehr tragen, und ich hab ihm nur gesagt: „Vater, im Heustadel liegen zwei Mauthausener. Ich hab ihnen zu essen gegeben. Ich habe nicht anders gekonnt.“

Der Mann ist bei der Mahlzeit gesessen und hat nach meiner Mitteilung erschrocken den Löffel auf den Teller fallen lassen. „Weib, du hast uns den Tod ins Haus gebracht.“ „Vater, ich weiß es, aber denk an unsere eigenen Kinder. Wir müssen das Kreuz auf uns nehmen.“ Wir haben beide in dieser Nacht kein Auge zugemacht.

Am nächsten Tag war Sonntag, und wir sind alle zusammen in die Kirche gegangen. Auf halbem Weg ist uns ein Trupp junger Burschen aus der Stadt begegnet, und ein SS-Mann mit einem großen Hund war auch dabei.

„Es sind noch immer einige Hasen in der Gegend, die noch nicht eingefangen und erlegt sind, bei dieser Jagd“, hat einer der Burschen gesagt, und die anderen haben laut gelacht dazu.

„Ist bei euch die Stadeltür offen, damit wir suchen können?“ hat der SS-Mann gefragt, „sonst müssen wir aufbrechen, lang fackeln können wir nicht!“

Mein Mann hat nur stumm mit dem Kopf genickt, und der Trupp ist weitergezogen. Bei der nächsten Wegbiegung hab ich der Tochter gesagt: „Kinder, lauft heim, so schnell ihr könnt, nehmt einen Abschneider, damit ihr früher als sie dort seid. Im Heu liegen zwei Flüchtlinge, deckt sie hoch zu, damit der Hund sie nicht aufnimmt, sonst werden sie erschlagen.“ Die Kinder sind wie die Wiesel davongerannt.

Ich hab an diesem Sonntag kaum erwarten können, dass die Kirche aus ist. Immer hab ich gehorcht nach Schüssen und Hundegebell. Und die Angst: du könntest es nicht hören, durch die dicken Mauern! Wie die ganze Geschichte den Vater gepackt hat, hab ich an seiner Starre gemerkt und noch an etwas anderem.

Seit vierzig Jahren waren wir damals verheiratet und jeden Sonntag, jahraus und jahrein, sind wir zusammen in die Kirche gegangen. Aber nicht ein einziges Mal ist er gleich nach der Messe mit mir nach Hause gegangen. Immer hat er sich, wie es Brauch ist, ein, zwei Stunden ins Wirtshaus gesetzt, bis er zum Mittagessen gekommen ist.

Heute aber ist er das erste Mal seit vierzig Jahren mit mir gleich nach der Kirche nach Hause gegangen. Sein Gesicht ist ganz grau vor Kummer gewesen. Die Kinder haben uns fröhlich empfangen.

„Nichts haben sie ausgerichtet. Wir sind so oft auf dem Heuboden hin- und hergerannt, dass der Hund nur unsere eigene Spur entdeckt hat, aber nicht die anderen. Vom Wald oben haben wir gesehen, wie sie wieder abgezogen sind.“

Nach und nach haben wir erfahren, wer unsere Quartierleute sind. Beide waren jung, der eine ein Fähnrich, der andere ein Oberleutnant. Über viele Lager sind sie nach Mauthausen gekommen.

Die erste Nacht nach der Flucht waren sie zu dritt unterwegs gewesen. Durch eine Magd war im Heustock eines Bauernhauses, zwei Kilometer von hier, einer der drei am frühen Morgen mit einer eisernen Heugabel verletzt worden. Sie mussten sich trennen. Sie haben von dem dritten nichts mehr gehört. Am Nachmittag sind in der Gegend einige Schüsse gefallen.

Die Tage gingen dahin, und jeder hatte ein bleiernes Gewicht. Und das Gesicht der Tage war immer gleich, eine bange Stille inmitten des Lärmes, und droben auf dem Hügel der ununterbrochen rauchende Schornstein. Die Wellen des Entsetzens schlugen immer wieder bis an unser Haus. Immer noch wurden versteckte Flüchtlinge eingefangen. Wenn ich einkaufen ging, hörte ich die Leute reden: Der Hunger wird sie schon heraustreiben, die noch versteckt sind in Wald und Au. Und di e jungen Hasen werden erfrieren, wenn von der Donau der eisige Wind kommt.

Auf den Straßen war es unruhig, und alle Wege haben nach Mauthausen geführt. Zwei unserer Söhne sind auf Urlaub gekommen. Soll ich ihnen das Geheimnis verraten oder nicht? Was werden sie tun, wenn sie selbst dahinter kommen? Da fragt mich einer meiner Söhne: „Mutter, für wen schöpfst du da immer was ab beim Kochen, von der Suppe und von dem Kraut?“

„Ja“, sag ich, „ja, es gehen jetzt soviel hungrige Leut herum im späten Winter, da muss man immer etwas auf der Seite haben, damit man nicht dasteht mit ganz leeren Händen.“

Später dann, als alles vorbei war, haben meine Söhne gesagt: „Mutter, schäm dich für deine Lüge, hast du denn geglaubt, wir hätten dich und die Russen verraten?“

Es ist viel wen, wenn man sich in solchen Zeiten wenigstens auf die Kinder verlassen kann im eigenen Haus.

Die Jagd war noch immer nicht abgeblasen, aber die Trupps, die die Gegend durchstreiften, wurden seltener. Es ist nicht leicht, mit der tödlichen Gefahr leben zu müssen, Tag und Nacht, denn man kann nie wissen, was alles daherkommen kann. Die spärlichen Gespräche mit den Nachbarn hatten oft einen lauernden Ton. Aber vielleicht war es nur die eigene Unruhe.

Wenn ich mit meinem Mann am Abend allein in der Stube war und die Kinder schon schliefen, hat uns oft die Angst gepackt. Wenn draußen ein Schuss gefallen ist oder ein Hund angeschlagen hat, sind wir zusammengefahren und haben uns bei den Händen gehalten in unserer Not. Werden sie jetzt kommen mit einem großen, bösen Hund und werden uns holen, die Russen und die Familie, die ihnen Obdach gibt? Und sie werden uns noch anspucken, bevor sie uns an eine Mauer stellen.

Allmählich sind wir zusammengewachsen zu einer Familie, weil wir uns von dem, was draußen vor sich ging, schützen mussten, und' nur herinnen war es warm. Mein Mann, obwohl er müde war von der schweren Arbeit im Steinbruch, hat jeden Abend zuerst gefragt, wie es „den Buben“ geht und ob ihnen auch nichts passiert sei den langen Tag. Es kam noch was ins Haus, das wir früher nicht kannten. Natürlich haben auch wir gewusst, dass es zu Ende geht, aber vom ersten Krieg haben wir auch gewusst, wie lange sich das Ende hinziehen kann. Aber der Oberleutnant hat uns auf den Karten, die freigiebig ausgegeben wurden, als es noch vorwärts gegangen ist, genau gezeigt, wie alles verlief, worüber es in der Zeitung nur spärliche Angäben gegeben hat.

Dann ist der jüngere Sohn auf ein paar Tage nach Hause gekommen, weil er vom Arbeitsdienst zum Volkssturm überstellt werden sollte. Wir haben ihm erzählt von unserem gefährlichen Familienzuwachs. In der Stube sind wir dann alle zusammengekommen und haben überlegt, was wir tun sollten. Der bevorstehende Abschied machte die Stimmen unsicher. Da hat einer der beiden zum ersten Mal „Mutter“ zu mir gesagt, und das ist mir durch Mark und Bein gegangen. „Mutter“, hat er gesagt, „Sohn, Bruder, hier bleiben“. Wir haben zugestimmt mit Zwiespalt im Herzen.

Von diesem Tag an haben wir drei Flüchtlinge im Haus gehabt: drei Söhne, von ganz verschiedener Herkunft, aber mit einer Gemeinsamkeit: jeder einzelne ist in Todesnot gewesen, und wir alle mit ihnen.

Später hat man dann manchmal gesagt, ja, das ist ja leicht, da war ja schon alles am Auseinanderbrechen, da konnte sich ja die Obrigkeit nicht mehr kümmern um das alles, im März und April vor dem Ende. Aber das Auseinanderfallen hat auf der Heerstraße nach Mauthausen ein ganz besonderes Gesicht gehabt: da sind täglich Transporte vorübergezogen, von anderen Lagern ins Lager Mauthausen. Schüsse sind gefallen und Kolbenhiebe, und am Straßenrand sind sie gelegen, die an Erschöpfung gestorben sind. Die Leute haben stumm zugeschaut. Nur wenige sind vor Entsetzen in die Häuser geflohen. Und so stark ist die Obrigkeit auch ganz zuletzt noch, dass sie daherkommen kann mit einigen Soldaten und einem Hund und drei Verborgene aufstöbert und vor der Haustür erschlägt und sie auf den Apfelbaum hängt. Dazu braucht es nicht viel. Noch am 29. April ist auf Befehl des Gauleiters im Lager ein großes Massaker veranstaltet worden: erschlagen, erschossen, vergast, damit sie die nächsten Tage nicht erleben. Es waren mahlende Steine, zwischen denen man gewesen ist, immer von Angst gepeinigt, dass man jetzt auch zermahlen wird.

Die Eingeschlossenen haben gewusst, dass die Tochter und ich schwer arbeiten müssen. Und auch wenn wir nicht viel zu essen gehabt haben, sie haben sich doch schon gekräftigt gehabt, und sie wollten arbeiten. Da hat dann einmal einer der Mauthausener in der Morgendämmerung Mist aus dem Stall auf den Düngerhaufen geschafft mit der Scheibtruhe. Nur einige Male ist er hinausgefahren, da hat auch schon ein Nachbar etwas gemerkt. Am nächsten Morgen hat er zu der Tochter herübergestänkert: „Na, Dirndl, was hast du dir denn da für einen Kerl versteckt? Einen, der dir die Arbeit tut?“

Und der Fratz, sie war ja erst siebzehn Jahre, hat ihm keck zugerufen: „Was, zum Arbeiten? Dass ich nicht lach! Ich hab mir einen eingefangen, damit ich gleich einen hab, wenn der Krieg vorbei ist und keine Männer da sind!“ Solche Reden musste man führen, um die Neugierde abzuwenden.

„Also weißt du“, hat es dann später geheißen, „glaubst du denn, wir hätten nicht gewusst, was da los ist?“

Dann hätten sie immer alles gewusst. Nachher, wenn alles vorbei ist. Aber vor ihren Fenstern hat man sie erschlagen und erhängt, und sie waren recht froh darüber, dass bei ihnen nichts im Heu war, das ihnen gefährlich geworden war. Und wer zu Fall gekommen ist, der war immer selbst dran schuld in ihren Augen. Die, wenn sie wirklich was gewusst hätten!

Dann ist in unserer Gegend der Krieg zu Ende gegangen in diesem zitternden Frühling, und meine Russensöhne sind wieder zu ihrer Truppe gestoßen. Das Haus war auf einmal ganz leer. Wir haben gelacht und geweint, und der Abschied war so schwer wie von wirklichen Söhnen, die in die weite Welt gehen, vielleicht auf Nimmerwiedersehen.

Jahre später, als erwachsene Männer haben uns die beiden besucht. Es ist eine große Feier im Lager gewesen mit Tausenden Menschen, und wir waren mittendrin. Das ist gar nicht gut, weil man doch am liebsten unter sich bleiben möchte bei einem solchen Wiedersehen, nach vielen Jahren ganz wunderlich darüber, dass man das noch erleben durfte. Wer wird schon gern schwach in den Knien, mitten unter Tausenden Leuten?

Wir sind nach Russland eingeladen worden, und bei großen Festlichkeiten hat man uns alten Bauersleuten hohe Ehren erwiesen.

Und immer wieder kommt die Frage: Was hast du dir, ein einfaches Weib, dabei gedacht, als plötzlich in der Nacht so einer vor dir steht? Warum hast du ihm aufgetan?

Ja, da könnte man manches antworten auf solche Fragen. Vom bebenden menschlichen Herzen und seiner Kraft in versteinerter Zeit könnte man reden und vom Aufschrei gegen das Unrecht. Und doch kehrt alles immer wieder dahin zurück: Ich habe mir gedacht, es könnte einer von deinen eigenen Söhnen sein, der jetzt in kalter Nacht und in höchster Todesnot an eine fremde Tür klopfen könnte. Und weil ich daran gedacht habe, war ich wie vom Blitz getroffen, als ich in die Augen des Fremden geschaut habe. Ich konnte gar nicht anders und habe ihm aufgetan.

Quelle: Franz Kain, Das Schützenmahl - Geschichten - Aufbau-Verlag Berlin-Weimar 1986, Seite 111-119, http://www.antifa.co.at

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